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Das Verhältnis gestaltet sich hier dann so, dass der Staat sich nicht bloss abwehrend gegen etwaige Übergriffe verhält, sondern sich eine sachlich begrenzte aktuelle Mitwirkung auf den Gebieten der Sacra externa sichert. Dieses staatliche Oberaufsichtsrecht äussert sich hiernach in den drei Grundformen der Staatstätigkeit überhaupt: rechtsschöpferisch, richtend und regierend. Rechtsschöpferisch in der Staatskirchengesetzgebung, welche die materielle Verhältnisordnung zwischen dem Staat und den einzelnen Kirchengesellschaften normiert; richtend darin, dass gegen Verletzung der gesetzlich geordneten Aufsicht die Rechtshülfe der staatlichen Zivil-, Verwaltungs- und Strafgerichtsbarkeit besteht; regierend durch fortlaufende administrative Aufsichtsübung über die zweckdienliche und ordnungsgemässe Ausführung des Staatskirchenrechts. Organe dieser administrativen Aufsichtsübung sind die staatlichen Verwaltungsbehörden in dem durch die Verwaltungsorganisation der Einzelstaaten geordneten Instanzenzug, an oberster Stelle die Kultusministerien. Das Sachgebiet der gemischten Angelegenheiten umfasst mindestens und notwendig gewisse Seiten und Bestandteile der Kirchenverfassung, des Kultus, der kirchlichen Straf- und Disziplinargewalt und des Kirchenvermögens. Die Kirchenverfassung ist an und für sich Bestandteil der rein internen Kirchenordnung. Für die katholische Kirche versteht sich dies geschichtlich von selbst; denn mit ihren unabhängig vom Staat, zum Teil bereits in den Jahrhunderten der Christenverfolgung ausgebildeten Verfassungselementen wurde sie schon ursprünglich im römischen Reich anerkannt und in ihrer Verfassungsbildung während anderthalb Jahrtausende niemals vom Staate beeinflusst. Die evangelischen Landeskirchen haben ihre Verfassungen zwar vielfach erst unter Mitwirkung der Staatsgesetzgebung erhalten, überall aber als einen in Gestalt der neuen Kirchengemeinde- und Synodalordnungen selbständig zugesicherten Besitz. Gleichwohl bestehen Berechtigungen und Bedürfnisse der Staatsaufsicht, sei es mit Rücksicht auf die Staatsleistungen für kirchliche Organe oder Anstalten, sei es mit Rücksicht auf die öffentliche Natur der Kirchenämter oder allgemeine Zwecke der Staatssicherheit. Unter dem einen oder anderen Gesichtspunkt betätigt sich die Staatsaufsicht im Gebiete der Kirchenverfassung durch gesetzlich bemessene Beteiligung (Einspruchs-Bestätigungsrechte) an der Besetzung der Kirchenämter, namentlich durch Mitwirkung an der Besetzung der Bischofsstühle und Ämter des evangelischen Kirchenregiments, ferner durch Einflussnahme auf die wissenschaftliche Vorbildung der Geistlichen und Kontrolle über die hierfür errichteten kirchlichen Anstalten, endlich durch die Vorbehalte staatlicher Zuständigkeit hinsichtlich der Zulassung und Tätigkeit von geistlichen Gesellschaften (Orden, Kongregationen). Auch der an sich interne Charakter des Kultus kann an sich gewisse Betätigungen der Staatsaufsicht nicht ausschliessen, insoferne die aktive Gottesverehrung die Formen äusserlicher Beziehungen zur gesellschaftlichen Öffentlichkeit trägt. Unter dem Gesichtspunkte des Rechtsfriedens und der Parität unterliegen daher Prozessionen und Verwandtes, religiöse Versammlungen unter freiem Himmel, kirchliche Begräbnisfeierlichkeiten der staatlichen Beaufsichtigung. Der schon erwähnte § 24 des deutschen Reichsvereinsgesetzes von 1908 hat ausdrücklich die Zuständigkeit des Landesrechtes auch „über religiöse Versammlungen, über kirchliche Prozessionen, Wallfahrten und Bittgänge, sowie über geistliche Orden und Kongregationen“ vorbehalten. Kirchendisziplin und Kirchenzucht unterliegen der Staatsaufsicht mit Rücksicht auf den Schutz der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Freiheit der Staatsangehörigen; namentlich hat sie sich hier durch bestimmte Beschränkungen in Ansehung der Strafmittel (Verbot von Lebens-, Leibes- und Freiheitsstrafen) und ihrer bürgerlichen Wirkungen (Exkommunikation), ferner hinsichtlich des Zweckes ihrer Anwendung (Nichtverhinderung von Ausübung staatsbürgerlicher Rechte) und endlich hinsichtlich der formellen Garantien eines gerechten Verfahrens (rechtliches Gehör, Freiheit der Verteidigung, Urteilsbegründung) zu betätigen. Die Staatsaufsicht über die kirchliche Vermögensverwaltung ist durch die bürgerlich rechtliche Natur des Objektes an sich bedingt und im besonderen durch das Staatsinteresse an der Erhaltung des Kirchenvermögens und die staatlichen Aufwendungen für Kirchenzwecke in den Kultusbudgets gerechtfertigt. Sie äussert sich namentlich in dem Vorbehalte der staatlichen Genehmigung zu wichtigeren Akten der kirchlichen Vermögensverwaltung und in Begrenzung der steuerlichen Mittel, mit welchen die Kirchenangehörigen für kirchliche Zwecke in Anspruch genommen werden dürfen. Die allgemeinen Mittel und Formen der administrativen Aufsichtsübung über die Kirchen und

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/119&oldid=- (Version vom 17.7.2021)