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daher nach eigenem Ermessen das Gebiet, für welches er seine Zwangsgewalt zur Verfügung stellt und unterwirft im Einzelfall die kirchliche Massregel, welcher der bürgerliche Rechtsschutz zuteil werden soll, seiner Vorprüfung und Anerkennung. Hauptanwendungsfälle des brachium saeculare nach geltendem Recht sind der staatliche Vollzug kirchlicher Disziplinarerkenntnisse und die Beitreibung kirchlicher Steuern mittelst des staatlichen Verwaltungszwanges. In beiden Fällen ist Voraussetzung, dass die kirchlichen Urteile und Hebelisten für staatlich vollstreckbar erklärt worden sind. Die Berücksichtigung des Kirchenwesens im öffentlichen Leben äussert sich teils in staatlicher Unterstützung der religiösen Wirksamkeit der Kirche, teils in organischer Beteiligung der Kirchen an gewissen Aufgaben der Staatspflege. In ersterer Richtung stehen obenan die staatlichen Ordnungen über kirchliche Sonn- und Festtagsfeier, welche der Würde des Kultus oder dem individuellen Schutze der Sonntagsruhe dienen. In der zweiten Richtung sind bemerkenswert die ständigen gottesdienstlichen Einrichtungen in gewissen Anstalten der staatlichen Wohlfahrts- und Sicherheitspflege (Strafanstalten) und in der Organisation des Militärkirchenwesens, namentlich aber die weitgehende Beteiligung der Kirche auf dem Gebiete des staatlichen Unterrichtswesens aller Grade, beginnend mit der Einrichtung der theologischen Fakultäten an den Universitäten und sich durch die Mittelschulen fortsetzend bis zur Ordnung des religiösen Unterrichts in den Volksschulen. Freilich ist gerade hiermit ein Gebiet schwieriger Ausgleiche zwischen den Ansprüchen von Kirche und Staat bezeichnet. Endlich bilden den Gegenstand des kraft der Advokatie gewährten besonderen strafrechtlichen Schutzes der Religionsfriede, die Ehre der Kirchen, die Ordnung der Kultusübung und die Sicherheit kirchlichen Vermögens nach näherer Massgabe der §§ 166 ff., 243, 304 ff. des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich.

III. Die Frage der Zukunft. Sie ist der geltenden Verhältnisordnung gegenüber die Forderung der Trennung von Staat und Kirche. Welche rechtlichen Merkmale hat dieses System? Wie steht es um seinen universalgeschichtlichen Tatbestand? Welches sind die Bedingungen seiner Verwirklichung für die Staaten des Deutschen Reichs?

Die Begriffsermittelung ist notwendig die erste Aufgabe. Sie hat sich vor allem klar zu halten, dass diese Trennung niemals eine absolute Zusammenhangslosigkeit bedeuten kann. Aus zwei Gründen nicht. Einmal nicht, weil Staat und Kirchen aus denselben Menschen bestehen und die Einheit der Persönlichkeit notwendig verbindend auf die Mitgliedschaft hier und dort zurückwirkt. Sodann nicht, weil alle menschlichen Organisationen an irgend einem Punkte notwendig von dem höheren Organismus, dessen Glieder sie sind, rechtlich bestimmend ergriffen werden, also auch die Kirchen vom Staat. Es kann sich also für die Begriffsbestimmung nur um die Ermittelung des Mindestmasses der an sich unvermeidlichen Rechtsbeziehungen zwischen dem Staate einerseits und Kirchengliedern oder Kirchengesellschaften andererseits handeln. Im Verhältnis zu den einzelnen Kirchengliedern ergibt sich als Grundprinzip der Trennung von Staat und Kirche die Lösung jeder rechtsnotwendigen oder gar zwangsweisen Verbindung des Individuums mit dem Kirchenwesen. Religion ist Privatsache. Daher einerseits Unabhängigkeit der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte vom religiösen Bekenntnis, andererseits Gewissensfreiheit bis in die äussersten Grenzen, insbesondere bis zum Wegfall einer Nötigung zur Eidespflicht und der Notwendigkeit einer religiösen Erziehung. Verstaatlichung ferner aller derjenigen Gebiete, auf denen möglicherweise Verbindlichkeiten religiösen Inhalts geltend zu machen wären: Schul-, Ehe-, Begräbniswesen. Selbstverständlich endlich staatliche Beurkundung des Personenstandes, aber keine bürgerliche Ordnung über Konfessionswechsel oder Austritt aus der Kirche, weil Kirchenangehörigkeit nicht rechtlich in der Staatsordnung reflektiert. Im Verhältnis zu den Kirchengesellschaften ergibt sich als grundlegendes Trennungsmerkmal der Wegfall des geschichtlichen Sonderbegriffs der „Kirchen“. Sie gehen im Gattungsbegriff von „Gesellschaften mit religiöser Zweckbestimmung“ unter. Es gibt keine Staatskirchen mit dem Privilegium der öffentlichen Korporationsqualität. In die einzelnen Folgerungen aufgelöst: keine öffentlich rechtliche Natur der Kirchenverfassung, der kirchlichen Behörden, Beamten, Anstalten; keine Staatshilfe, weder einen Kultusetat noch die Hülfe eines staatlichen Verwaltungszwangs; keinen rechtlich anerkannten Einfluss des Kultus im öffentlichen

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/121&oldid=- (Version vom 17.7.2021)