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und gewerblichen Leben; keinen besonderen Strafschutz; keine organische Beteiligung der Kirchen an Aufgaben oder Institutionen der Staatspflege, wie Heereswesen, Schulwesen aller Ordnungen, Strafvollzug. Für solche Einbusse an öffentlichem Recht gewinnen andererseits die Religionsgesellschaften den Wegfall der Kirchenhoheit des Staats nach Seiten des Reformationsrechts und des Oberaufsichtsrechts. Ein Reformationsrecht braucht es nicht mehr zu geben, weil jede staatsrechtliche Differenzierung der Religionsgesellschaften in Wegfall gekommen ist und alle in die Kategorie der Vereine oder Anstalten gehören. Das Oberaufsichtsrecht wird nach seiner gesetzgeberischen wie nach seiner administrativen Seite entfallen. Eine spezifische Staatskirchengesetzgebung hat kein Betätigungsgebiet mehr, weil es gemischte, d. h. Angelegenheiten mit konkurrierenden Anteilen von Staats- und Kirchengewalt nicht mehr gibt; eine Sache ist entweder rein weltlicher oder rein kirchlicher Art, niemals Gegenstand geteilter Kompetenz. Es kann folgerichtig auch kein administratives Jus inspiciendi cavendi auf den Grenzgebieten des kirchlichen Ämterwesens, der Straf- und Disziplinargewalt der Kirchen und des kirchlichen Vermögensrechts bestehen. Die Freikirche hat völlige Selbständigkeit der inneren Verwaltung in Anspruch zu nehmen; ihr Kirchenrecht existiert auch ohne staatliche Anerkennung als autonomes Recht. So tritt alles in allem unter dem Trennungssystem an Stelle der Kirchenhoheit eine Vereins- und Kultuspolizei. Hier offenbart sich die notwendige und bleibende Verbindung mit dem Staat. Nach Vereinsrecht bestimmen sich Voraussetzungen und Mass der Rechtsfähigkeit: juristische Persönlichkeit, Erwerbsfähigkeit, polizeiliche Überwachung, Schranken der Kultusübung in der Öffentlichkeit. Dies die wesentlichen Züge einer folgerichtig durchgeführten Trennung von Staat und Kirche.

Vergleicht man diesen Rechtsbegriff mit dem Bilde der geschichtlichen Realitäten, so ist das Resultat, dass eigentliche Trennung in keinem einzigen christlichen Kulturstaate der Welt besteht und dass, soweit relative Trennung durchgeführt ist, die Bedingungen ihrer Art- und Massbestimmung nirgends allgemeiner Natur oder Gültigkeit gewesen, sondern allem aus der Eigenart konkreter Staats- und Kirchenwesen zu erklären sind. Überall ist Stellung und Lösung des Problems im engsten und strengsten Sinne geschichtlich bedingt. So ergibt der universalgeschichtliche Tatbestand eine Mannigfaltigkeit der Rechtserscheinungen, welche jedem einheitlichen Typ widerstrebt. Italien, Holland und Irland werden an und für sich irrtümlich zu den Trennungsstaaten gezählt. Überall sind hier, wie schliesslich in allen Staaten des Deutschen Reiches auch, nur vereinzelte Folgerungen des Trennungsgedankens gezogen. Rein konfessionell bedingt sind die Trennungssysteme in den Staaten Mittel- und Südamerikas, in Mexiko, Brasilien, Ecuador, Kuba; bald ist sie Stütze für die Freiheit der katholischen Kirche, bald Schutz für Staat und Volk gegen die katholische Kirchenhierarchie. Umgekehrt hat sie praktische Bedeutung überwiegend für den Protestantismus in Genf und Basel. Auch die Staatsform ist unter den Entwickelungsbedingungen des Systems hervorragend beteiligt. Als einzige Monarchie Belgien. Gerade Belgien aber versagt vollständig für jeden vorbildlichen Vergleich. Seine Verfassung von 1831 hat zwar die Kirche völlig von der Staatsaufsicht freigegeben, aber alle Verpflichtungen des Staats gegenüber der Kirche aufrecht erhalten. Nach wie vor besteht das staatliche Kultusbudget, welches dem Staat die Zahlung aller Gehälter für die Kirchendiener auferlegt. Diese Darstellung einer Trennung von Staat und Kirche hat man zutreffend als „die freie Kirche im unfreien Staat“ charakterisiert. Ausser Belgien haben nur Republiken, darunter mehrere eben aus Anlass des Überganges zur republikanischen Staatsform, die Trennung eingeführt. Derselbe Vorgang scheint sich jetzt in Portugal zu wiederholen. Die beiden an die Spitze gestellten Erfahrungstatsachen, die schlechthin historische Bedingtheit des Systems auf der einen, die durchweg fehlende Konsequenz in seiner Durchführung auf der anderen Seite, treten charakteristisch insbesondere auch in denjenigen beiden Staaten auf, welche als die Musterbeispiele für die Klassizität des Systems vorgeführt zu werden pflegen, in Nordamerika und Frankreich. Die Unionsverfassung Nordamerikas von 1787 spricht nirgends von einer Trennung. Die Zusatzakte von 1791 enthält nur die beiden kurzen Verbotsnormen: „Keinerlei Religionsbekenntnis darf als Qualifikation zur Erlangung eines Staatsamts gefordert werden“ und „der Kongress darf durch kein Gesetz eine Religionsgesellschaft etablieren oder die freie Religionsausübung behindern.“ Alles übrige ist

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/122&oldid=- (Version vom 17.7.2021)