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Sache der einzelnen Staaten geblieben, welche ihren staatskirchenrechtlichen Besitzstand durchaus auf dem Boden und im Geiste ihrer geschichtlichen Eigenart behalten und weitergebildet haben. Weder durch jene Normen der Unionsverfassung noch durch die Sonderentwickelung der Einzelstaaten wurde verhindert, dass enge Beziehungen zwischen Staat und Religion bis in die Gegenwart bestehen. Die Sitzungen des Bundeskongresses und vieler Einzelkongresse werden mit Gebet eröffnet. Der Präsident und die Regierungen der Einzelstaaten haben das Recht zur Anordnung von Dank- und Busstagen. Es besteht ein strafrechtlicher Schutz der Religion, auch gegen Gotteslästerung. Die bürgerliche Sonntagsheiligung ist allgemein, vereinzelt puritanisch. In den staatlichen Organisationen des Heeres, der Marine und des Strafvollzugs ist Vorsorge für Religionspflege getroffen. Die Ehe kann gültig in kirchlicher Form geschlossen werden. Die meisten Verfassungen bringen in irgend einer Wendung Notwendigkeit und Wert der Religion zum Ausdruck. Es wird sogar über ein angebliches Gewohnheitsrecht geklagt, dass trotz der Unionsverfassung ein Katholik nicht Präsident der Union werden könne. Aber die Berührungen gehen noch weiter. Das staatliche Oberaufsichtsrecht betätigt sich in strengen Amortisationsgesetzen und vereinzelt in Beschränkungen bei Veräusserung des Grundeigentums. Besonders charakteristisch endlich tritt die grundsätzliche Unmöglichkeit einer völligen Trennung von Staat und Kirche dann hervor, wenn zwischen einem Geistlichen und seiner Gemeinde oder unter Gemeindegliedern selbst ein Streit über Lehre und Dogma entsteht. Man sollte meinen, dass das Trennungssystem gerade an diesem Punkte jedes staatliche Entscheidungsrecht fern hielte. Das Gegenteil ist der Fall. Nur verlegt sich der Streit aus dem Gebiete der Verwaltung in das der Gerichtsbarkeit. Er spielt sich in den Formen bürgerlichen Rechtsstreits ab. Spaltet sich die Gemeinde in eine strengere und freiere Richtung, so bleibt nach ständiger Judikatur diejenige im Eigentum des Kirchenvermögens, welche die alte Lehre beibehalten hat. Darüber entscheiden die Gerichte. Es ist der innerlichste Punkt, an welchem auch bei Trennung eine Verbindung von Staat und Kirche nicht auszuschalten ist. Dass die Lehrstreitigkeit hier nur als Präjudizialpunkt für Vermögensansprüche auftritt, ändert die Form der Instanz, nicht das Wesen der Sache. Trennung kann niemals Zusammenhanglosigkeit von Staat und Kirche sein. Das ist sie auch entfernt nicht in Frankreich. Man kann das Ergebnis dahin zusammenfassen: Der französische Staat hat im Gesetz vom 9. Dezember 1905 zwar sich von der Kirche, nicht aber die Kirche von sich getrennt. Das Erstere tritt charakteristisch v. a. in zwei Momenten hervor. Einmal in der Zurückziehung aller „vom Staate herstammenden Güter,“ „vom Staate herstammend“ nämlich deshalb, weil schon einmal durch das Revolutionsgesetz vom 2. November 1789 alles katholische Kirchengut „zur Verfügung der Nation“ gestellt worden war. Sodann, unterschiedlich von Nordamerika, in der völligen Loslösung der Religion aus dem Rechtsleben des Staats. Eingeleitet seit langem durch die Entfernung alles Religiösen aus der Schule, aus den Beziehungen des Staates zum Sonntag, aus den Parlamenten und Gerichtssälen steigert sie sich im Trennungsgesetz, wiederum nach einem gesetzlichen Vorbild von 1795 zum Verbot aller religiösen Abzeichen oder Sinnbilder an öffentlichen Bauwerken oder Orten, wo immer es auch sei, ausgenommen Kultusorte. Die andere Eigenart der französischen Trennungsmethode äussert sich in den Vorbehalten eines Masses von Staatsaufsicht, wie es mit den Prinzipien des Systems nicht mehr vereinbarlich ist. Dies tritt schon in dem Fortbestand des Vereinsgesetzes von 1901 mit seinem beschränkenden Sonderrecht für die geistlichen Orden hervor. Es setzt sich fort in einer Reihe von Bestimmungen des Trennungsgesetzes selbst. So dient in ihm die als Pflicht statuierte Öffentlichkeit des Kultus zur polizeilichen Kontrolle und wirkt als eine Art staatlicher Zwangsversicherung für den Fortbestand des Volkskirchentums. Auf der gleichen Linie liegen die rechtlichen Beschränkungen der Kultusvereine. Zwar hat sich gegenüber dem passiven Widerstand der katholischen Kirche die Novellengesetzgebung von 1907 dazu gedrängt gesehen, einiges von der Strenge des ursprünglichen Rechts nachzulassen. Aber der grundsätzliche Anspruch der Staatsaufsicht ist davon nicht berührt. Die neuen Einnahmequellen der Kultusvereine sind gesetzlich auf freiwillige Beiträge, Kollekten und Gebühren beschränkt. Durch Schenkung oder Testament können sie nichts erwerben. Erlaubt ist die Bildung bescheidener Reservefonds, ausgeschlossen die Ansammlung von Vermögen. Die ganze Finanzverwaltung ist der Kontrolle staatlicher Rechnungskammern unterstellt. So ist die Trennung in Frankreich eine wesentlich einseitige. Sie war ein durch schwere Spannungen hervorgerufener

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/123&oldid=- (Version vom 17.7.2021)