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politischer Akt mit dem ausgesprochenen Zweck, den Einfluss des Katholizismus im Staatsleben zu brechen. Ob sie auf ihrem eigenen Wurzelboden sich werde halten können, ist zweifelhaft, nach den geschichtlichen Erfahrungen über den Wechsel der kirchenpolitischen Systeme in Frankreich nicht wahrschemlich. Gewiss ist nur, dass sie in irgend welchem Sinn ein Vorbild für den Gang der Kirchenpolitik in Deutschland nicht abgeben kann.

Für die deutsche Frage bedarf es zunächst der Wiederanknüpfung an den geltenden Rechtszustand. Nach ihm besteht bereits so vollkommen als irgendwo eine Trennung insoweit, als solche durch die Verschiedenartigkeit des Wesens von Staat und Kirche gefordert wird: Trennung im Verhältnis zu den Kirchengliedern durch Gewissensfreiheit, Unabhängigkeit der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte vom religiösen Bekenntnis, Verstaatlichung von Personenstand und Ehe; Trennung im Verhältnis zu den Kirchengesellschaften durch Kultusfreiheit und Selbständigkeit der Kirchen quoad sacra interna, wie in Lehre und Kultus, so in den Freigebieten der Autonomie. Eine zweifache Verbindung andererseits unterhält das System der Kirchenhoheit durch Staatsaufsicht und Advokatie auf den früher bezeichneten Gebieten der Sacra externa. Wird das Problem für Deutschland gestellt, so gilt es also, auch diese beiden Beziehungen in ihrer Gesamtheit zu lösen. Soll verzichtet werden auf die gesetzliche und administrative Staatsaufsicht über das kirchliche Ämterwesen, die kirchliche Straf- und Disziplinargewalt, die kirchliche Vermögensverwaltung, die religiösen Vereine und Genossenschaften? Werden religiöse Kindererziehung, Konfessionswechsel, Austritt aus der Kirche der freien Konkurrenz der Religionsgesellschaften ohne bürgerlich rechtliche Ordnung zu überlassen sein? Ist andererseits die Anerkennung der historischen Kirchen als öffentlicher Korporationen zurückzuziehen, also das Kultusbudget zu streichen, die Religion als Privatsache zu behandeln und in allen ihren Einwirkungen auf das öffentliche Leben, in Sonntagsruhe, Gewerbebetrieb, Sozialpolitik, Militärkirchenwesen, Gefängniswesen usw. zu tilgen? ist jeder spezifische Staatsschutz preiszugeben? Ist der Zusammenhang von Staatsschule bis zur grundsätzlichen Beseitigung des Religionsunterrichts und Aufhebung der theologischen Fakultäten zu lösen? Das und im einzelnen noch vieles andere sind die konkreten Fragen und Entschliessungen für die Staaten des deutschen Reichs. Die Stellungnahme zu dem Problem wird stets eine individuelle und subjektive sein. Folgende Momente sind nach meinem Urteil aus den Gesichtspunkten des Rechts und der Politik beachtenswert und entscheidend.

Zunächst die Problemstellung selbst. Man will Trennung von Staat und Kirche in Deutschland „einführen“. Kann man das? Die „Einführung“ wäre der erstmalige Versuch, das System auf ein paritätisches Staatswesen grössten Stils, das religiös und kirchlich komplizierteste der Welt, originär zu übertragen, ein Staatswesen, dessen Verhältnis zur evangelischen Kirche sich seit Jahrhunderten auf dem Boden des Landeskirchentums festgestellt, dessen Verhältnis zur katholischen Kirche unter schweren Erschütterungen sich regional ausserordentlich verschieden planmässig und vorsichtig zu dem gegenwärtigen modus vivendi entwickelt hat. In diesen organisch gewordenen Zustand der Dinge kann man nicht ein kirchenpolitisches System, und wäre es noch so preiswürdig vom Standpunkte der Theorie, mechanisch hineintragen. Das Verhältnis von Staat und Kirche entsteht, es wird aus inneren und geschichtlichen Lebensbedingungen heraus, aus vorhandenen Notwendigkeiten. Es lässt sich nicht künstlich machen. Wird es künstlich durch eine zufällig im Besitz der Macht befindliche Mehrheit „eingeführt“, so kann es, weil nicht der adäquate Ausdruck des Volksbewusstseins, Dauerbestand nicht haben. In Nordamerika ist es geworden, seit und mit der Staatenbegründung wurde jeder intime Assimilationsprozess von Staat und Kirche verhindert. In Frankreich wurde die Sache aus politischen Gründen gemacht. Dort wird das System von der allgemeinen religiösen Überzeugung getragen, hier muss es durch Polizeimacht aufrechterhalten werden. Die richtige Fragestellung ist also nicht die, ob das System „einzuführen“ sei, sondern, ob für Deutschland seine Gegenwartsbedingungen vorhanden sind.

Damit eröffnet sich ein zweiter Fragenkreis der Überlegung. Sind auf dem gegebenen geschichtlichen Boden die inneren geschichtlichen Bedingungen für Deutschland erfüllt? Wer die Dinge real und unbefangen besieht, muss bedenklich sein, die Frage zu bejahen. Zunächst schon im Hinblick darauf, ob es hier möglich sein werde, die grossen historischen Kirchen durch Rechtssatz,

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/124&oldid=- (Version vom 17.7.2021)