Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/125

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

also künstlich zu Privatvereinen, d. h. zu einem Gebilde zu machen, das sie nach Wesen und geschichtlichem Bestande nicht sind. Das historisch gewordene Kirchentum in Deutschland trägt nach seiner Verknüpfung mit dem Volkstum noch immer an sich selbst einen schlechthin öffentlichen Charakter. Wie sollte es sich in den Zwang einer Rechtsform fügen, welches seinem Geiste schlechthin widerstrebt! Dieser lehnt es ab, die Kirchen mit wirtschaftlichen Gesellschaften, mit wissenschaftlichen, wohltätigen oder politischen Vereinen juristisch zu identifizieren. Die Lehre von der Religion als Privatsache hat ihre volle Geltung und Berechtigung im Gebiet der individuellen Gewissensfreiheit, sie ist aber für Deutschland keine allgemein gültige Lebenswahrheit im Verhältnis der Religion zur Gesamtheit von Staat und Volk. Damit in folgerichtigem Zusammenhang steht das weitere Bedenken, ob die deutschen Staaten ohne schwere politische und kulturelle Gefährdung die Einbusse an Kirchenhoheit, an Oberaufsichtsrechten zu ertragen vermöchten, welche mit einem korrekt und ehrlich durchgeführten System der Trennung unvermeidlich verbunden ist. Schwere Kämpfe und nachteilige Folgen würden sich nicht nur für die Wahrung der vitalsten Staatsinteressen selbst, sondern insbesondere auch im Gebiet der Paritätspflege ergeben. Denn die Mittel unkontrollierbarer Vereinstätigkeit gestatten eine Kraftentwickelung nach beiden Seiten, sowohl eine unberechenbare Einflussnahme auf die Staatsleitung, als die Ausnutzung der Macht des Stärkeren gegen das Recht des Schwächeren. Es erheben sich endlich grundsätzliche Bedenken gegen die völlige Ausschaltung der Kirche von gewissen Aufgaben der Staatspflege. Es ist insbesondere kein Zweifel, dass mit der absoluten Trennung der Kirche vom staatlichen Schulwesen sich eine der Quellen unserer gesamten eigenartigen deutschen Kultur schliessen würde. Das Gemeinwohl fordert die Erhaltung der theologischen Fakultäten beiderlei Konfession. Der Staat hat ein Lebensinteresse daran, den deutschen katholischen Klerus in der nationalen Kulturgemeinschaft der Universitäten erzogen und erhalten zu wissen, ein noch grösseres daran, den ungeheuren Ertrag der von den evangelisch theologischen Fakultäten geleisteten und zu leistenden Arbeit im überlieferten und bewährten Zusammenhang der allgemeinen Geisteswissenschaften zu erhalten.

Aber halte man von diesen prinzipiellen Bedenklichkeiten so viel oder wenig, als man wolle. Es öffnet sich noch ein dritter Fragenkreis. In ihm treten diejenigen Erwägungen auf, welche die tatsächliche Durchführbarkeit des Systems in der Gegenwart betreffen. Hier müssten insbesondere drei Hindernisse von denen beseitigt werden, welche die Trennung von Staat und Kirche in Deutschland „einführen“ wollen. Das erste liegt im bundesstaatlichen Verhältnis von Reich und Einzelstaaten. Unser Staatskirchenrecht ist seit Entstehung der Landeshoheit in seinem wesentlichen Bestande partikuläres Recht. Diesen Charakter hat es reichsverfassungsmässig noch jetzt. Das Eingreifen der Reichsgesetzgebung war und ist überall nur ein gelegentliches und mittelbares. Eine unmittelbare Reichskompetenz in Religionssachen gibt es nicht. Die Versuche, eine solche zu begründen, sind ausnahmslos gescheitert und mussten scheitern. Eine reichsgesetzliche Durchführung der Trennung von Staat und Kirche würde die grundsätzliche, die totale und radikale Beseitigung des Landeskirchenrechts bedingen. Sie wäre dann nicht mehr der Ausdruck eines verfassungsmässig bestehenden Bundesstaatsverhältnisses, sondern das Anzeichen seiner Auflösung und des Überganges zum Einheitsstaat. Aus dieser geschichtlichen Gebundenheit kann das Problem der Trennung von Staat und Kirche in Deutschland im Zusammenhange mit der Entwickelung des bundesstaatlichen Verhältnisses selbst nicht auszulösen sein. Schon darum ist jede Vergleichung mit Frankreich ausgeschlossen. Dort hatte es die Staatsgesetzgebung nur mit Aufräumung eines auf einheitlichen Rechtsquellen beruhenden Staatskirchenrechts zu tun. Hiernach hätte also in Deutschland das Trennungsgeschäft vom Landesrecht zu geschehen. Hier aber steht überall ein weiteres, durch die Staatsgesetzgebung nicht willkürlich und nicht zwangsweise zu beseitigendes Hindernis im Wege: die Tatsache des landesherrlichen Kirchenregiments über die evangelischen Landeskirchen. Von dem freien Verzichte darauf würde die Durchführbarkeit des Systems schlechthin abhängig sein. Ein solcher Verzicht der deutschen Landesherrn ist nicht zu erwarten. Man beurteile das nicht falsch. Es ist nach Abstreifung des alten territorialistischen Charakters in keinem Sinne mehr eine Machtfrage. Das landesherrliche Kirchenregiment ist nicht bloss ein Inbegriff von Rechten; es steht nicht weniger unter dem Gesichtspunkt einer durch den Gang der deutschen Geschichte auferlegten und dem Protestantismus gegenüber

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 105. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/125&oldid=- (Version vom 17.7.2021)