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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Käufer und Verkäufer entscheidet formell der freie Vertragswille. Es ist jedoch leicht einzusehen dass diese Vertragsfreiheit nur eine Fiktion ist; denn in Wirklichkeit entscheiden die wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse. Der Arbeiter ist formell berechtigt, einen beliebig hohen Lohn und eine beliebig kurze Arbeitszeit zu verlangen; er wird diese Forderung jedoch nur dann durchsetzen können, wenn er der wirtschaftlich stärkere ist, d.h. wenn das Angebot von Arbeitskräften knapper ist als die Nachfrage danach. Eine solche Situation kommt – und nicht nur gelegentlich – wohl vor; so z. B. in den jungen Arbeiterstaaten Australiens. Für gewöhnlich wird jedoch die Stellung des Unternehmers die bessere sein, weil das Arbeitsangebot zu überwiegen pflegt; der scheinbar freie Vertragsabschluss wird also tatsächlich zugunsten des Unternehmers ausfallen. Zu seinen Ungunsten kann sich jedoch die Situation wiederum dann verschieben, wenn unter strenger Aufrechterhaltung des Prinzips der Vertragsfreiheit und der Nichteinmischung des Staats die Arbeiter durch Zusammenschluss zu Verbänden das Angebot zusammenfassen und durch die weiteren Mittel der Arbeitseinstellung (als Produzenten) und des Boykotts (als Konsumenten) ihre Lohnforderungen und anderen Bedingungen durchsetzen. Dass demgegenüber nun wiederum die Unternehmer mit Verband und Aussperrung sich wehren, zeigt, dass die angebliche Vertragsfreiheit nichts anderes ist als der jeweilige Waffenstillstand zwischen erschöpften Kämpfern.

Vertragsfreiheit bedeutet Preisgabe des wirtschaftlich Schwächeren, kann Arbeiterausbeutung, Wucher, Monopolpreis, aber auch Ruin des Unternehmers, Schädigung des Kapitalisten, einseitige Förderung des Konsumenteninteresses bedeuten. Vertragsfreiheit ist ein blosses Wort, dessen Inhalt erst die Wirtschaftslage des Augenblicks schafft.

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Die Stellung des Staates zu den Fragen der Wirtschaft kann nur durch seine eigene Aufgabe gegeben werden; sie ist deshalb durchaus politisch bestimmt. Wer den Staat nur als eine Teilorganisation der Menschheit des ganzen Erdkreises ansieht, wer die Entwicklung des einzelnen Individuums für das gegenwärtige Ziel der Kultur erklärt, wird zum mindesten ein Eingreifen des Staates auf das unerlässliche Minimum beschränken wollen. Zwar wird heut kaum jemand mehr auf dem blossen „Nachtwächter“-Standpunkt der französischen Liberalen der dreissiger und vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts stehen, die dem Staat keine andere Aufgabe zuerkennen wollten als den Schutz von Leben und Eigentum; aber die Vorstellung der praestabilierten Harmonie des sich selbst überlassenen Wirtschaftslebens beherrscht doch immer noch weite Kreise der Wissenschaft wie der wirtschaftspolitischen Praxis. In den meisten Ländern erfolgt allerdings, unbekümmert um jede Theorie, ein weitgehendes Eingreifen des Staates in die Wirtschaft, und selbst das andere Extrem, die völlige Sozialisierung der Wirtschaft, ringt in den australischen Staaten deutlich genug um Erfüllung. Dem Einfluss des transozeanischen Angelsachsentums ist es wohl vor allem zuzuschreiben, dass selbst der alte Hort der „non-intervention“, Grossbritannien, auf dem Wege namentlich des sozialpolitischen Staatseingreifens kühn vorangeht; das Alterspensionsgesetz des liberalen Ministers Lloyd George ist viel „sozialistischer“ als unsere vielgepriesene deutsche Arbeiterversicherung. Wer den Zweck des Staates in ihm selbst und seiner Selbstbehauptung sieht, wird seine wirtschaftliche Tätigkeit eben unter dem Gesichtspunkte der Staatsnotwendigkeit erfassen. Dies gilt von der Tätigkeit des Staates als wirtschaftendem Subjekt, von dem Einfluss auf die nationale Produktion und die grossen Erwerbsgruppen wie schliesslich von der Einwirkung auf die sozialen Verhältnisse.

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Beim Staat als selbstwirtschaftendem Subjekt wird man zwischen jenen Wirtschaftszweigen scheiden können, deren Betreibung in seinem Wesen als Staat selbst begründet werden kann, und jenen weiteren, die ihm nur als Finanzquelle dienen. Als Musterbeispiel für die ersteren sei das Eisenbahnwesen angeführt. Zwar bringen die Eisenbahnen gewaltige Überschüsse (in Preussen und Bayern sind die Einnahmen aus ihnen grösser als die Steuererträgnisse); aber das wesentliche liegt doch nicht darin, sondern in der Einwirkung der Eisenbahnen auf das gesamte Wirtschaftsleben. Die Gütertarifpolitik ist die entscheidende Tatsache

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/128&oldid=- (Version vom 18.7.2021)