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der Einzelne Empfänger ist. Doch wird bei der Gewährung von Staatsbeihilfen in irgend einer Form stets das Vorhandensein eines öffentlichen, d. h. eine grössere Personenzahl betreffenden Interesses vorausgesetzt. Es ist naturgemäss, dass diese Unterstützungen überwiegend den „kleinen Leuten“ zugute kommen; für die wohlhabenderen Produzenten werden sie wenigstens in der Gegenwart mehr auf indirektem Wege, etwa durch Bereitstellung von Mitteln für technologische Forschung (Physikalisch-technische Reichsanstalt) verwendet werden. Doch kommt auch jetzt noch eine direkte Unterstützung grösserer Unternehmungen, beispielsweise durch die Gewährung von Ausfuhrprämien (Zucker bis zur Brüsseler Konferenz) nicht selten vor. Die Städte, welche ein Interesse an der Heranziehung grösserer Steuerzahler haben, gehen auch wohl noch weiter (unentgeltliche oder sehr billige Überlassung von Terrain, Steuererleichterungen, Vorzugsbedingungen bei Elektrizitäts- und Wasserlieferung), welchen Weg selbst ganze Staaten noch einschlagen, die ihre Volkswirtschaft rasch in die Höhe bringen wollen (Balkan- und südamerikanische Staaten). Bei uns pflegt der Staat diese Förderungsgelder nur zum Teil durch seine eigenen Verwaltungsorgane zu verteilen, bedient sich vielmehr zumeist der Mitwirkung der sachkundigen offiziellen Vertretungskörperschaften der einzelnen Berufsstände (Landwirtschaftskammern, Handwerkskammern, weniger Handelskammern).

Seine vornehmste Aufgabe aber erfüllt der Staat auch in wirtschaftlicher Beziehung, wenn er als Schirmherr der Schwachen auftritt, wenn er in das Getriebe des Wirtschaftslebens hemmend eingreift, um Unkundige und Hilflose zu schützen. Dieser Schutz bedarf wohl unter Umständen der Ergänzung, um voll wirksam zu sein; es genügt nicht, dass der Staat den Wucher unter noch so strenge Strafe stellt, wenn er nicht zugleich dafür sorgt, dass die Kreditbedürftigen, soweit der Kredit wirtschaftlich berechtigt ist, anderswo Befriedigung finden, etwa in Leihhäusern oder Kreditgenossenschaften. Es gibt wohl auch noch eine Reihe solcher Probleme, zu deren Lösung sich ein einwandfreier Weg noch nicht gefunden hat (Kampf gegen Trustausschreitungen in Amerika, Heimarbeit). Aber gerade auf dem Gebiete des Schutzes der wirtschaftlich Schwachen hat der moderne Staat, gegenüber doktrinären Widerständen jeder Art, seine schönsten Triumphe gefeiert. Alles, was man mit dem weiten Namen Sozialpolitik zusammenzufassen sucht, gehört hierher.

Die Sozialpolitik setzt zuerst gegenüber dem schrankenlosen Überfluten des frühkapitalistischen, aller alten Zunft- und Produktionsbeschränkungen entbundenen Erwerbstrieb ein, um Schutzdämme gegen die Vernichtung der Volkskraft aufzubauen; eine Bewegung, die in gleicher Weise von vornehmen Menschenfreunden wie Graf Shaftesbury oder Wichern, von Staatsverneinern wie der Sozialdemokratie, wie endlich von kühl rechnenden scharfsinnigen Staatsmännern mit dem grossen Namen Bismarck an der Spitze getragen wurde. Diese Eingriffe der Regierung bewegen sich in einer doppelten Richtung: sie wollen eine übermässige Ausbeutung von Kraft und Gesundheit der Arbeiter verhüten und sie wollen auf die Einkommensverteilung zu seinen Gunsten einwirken. Verbot gewisser gefährlicher Arbeitsmethoden (Verwendung weissen Phosphors), Beschränkung weiblicher und jugendlicher Arbeitskräfte auf solche Verwendung, die ihren Kräften angemessen ist; endlich Maximalarbeitstag, erst für Jugendliche und Frauen, dann für erwachsene männliche Arbeiter, das sind die Etappen des Weges. Der Einkommensverteilung dient die soziale Versicherung, die dem Arbeiter über seinen Tagelohn hinaus einen Anteil an dem nationalen Einkommen sichert. Und selbst darüber hinaus geht – wieder unter australischem Einfluss – schon England: Festsetzung von Minimallöhnen in der Hausindustrie und im Bergbau, Alterspension ohne vorhergegangene Versicherung. Freilich geht der hemmende Einfluss des Staates nicht immer nach der Richtung einer Stärkung nur der Arbeiter: in dem Kampf gegen gewisse Formen des Handels (Konsumvereine, Warenhäuser) wird gegen die hier nur als Konsumenten in Betracht kommenden einkommenschwächsten Volksteile der Mittelstand geschützt.

Der Staat, so sehr er als dauernde Erscheinungsform über seinen jeweiligen Teilgliedern steht, ist andererseits eben doch ihr Inbegriff, fühlt ihrer aller Leiden und Verlangen. Wie der Körper des Menschen in Aktion und Reaktion physiologisch bedingt ist, so wird der Staat von all den widerstreitenden wirtschaftlichen Interessen bewegt. Die Harmonie zwischen all diesen Disharmonien zu finden, das ist die immer neu gestellte und nie endgültig gelöste Aufgabe der Wirtschaftspolitik.



Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/131&oldid=- (Version vom 18.7.2021)