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auflehnte. Schon hier konstatiert die Gesellschaft als das Reich der Freiheit scharf genug mit dem Staate als dem Reiche des Zwangs. Dieser Gegensatz wird dann von der sozialistischen Theorie immer stärker herausgearbeitet; namentlich der Anarchismus mit seiner absoluten Staatsfeindschaft hat hier das äusserste geleistet. Er will den Staat als mit Zwangsrechten ausgestattete Gemeinschaftsorganisation völlig ausrotten; die von freier Gegenseitigkeit (Mutualismus) gelenkte Gesellschaft ist sein Ziel. Die Marx’sche Soziallehre dagegen perhorresziert nur den Namen „Staat“; ihre Zukunfts-„Gesellschaft“ ist mit noch mehr Zwangsgewalt ausgestattet, als der historische Staat, der nur insofern verschwinden wird, wie er „Klassenstaat“ ist, d. h. eine vorwiegend im Interesse der besitzenden Klasse zum Zwecke der Ausbeutung der Unterklasse bestimmte und fungierende Ordnung.

Schon aus diesem Gegensatz der beiden sozialistischen Hauptschulen geht hervor, dass auch diese Begriffstrennung das Wesentliche verfehlt. Keine Gesellschaft der Welt ist denkbar, die nicht gewisse Zwangsbefugnisse, d. h. etwas „Staat“ in diesem Sione, durch Beamte gegen ihre Mitglieder besitzt, und sei es nur die Zwangsgewalt des Strafrichters und das Expropriationsrecht im gemeinen Interesse.

Man kann eben aus dem Inhalt der beiden Begriffe kein zureichendes principium divisionis gewinnen, weil Staat und Gesellschaft im sprachüblichen Sinne auf das engste mit einander verflochten sind, sich gegenseitig wie zwei unregelmässige Figuren überlagern. Wohl aber kann man einen zureichenden Einteilungsgrund gewinnen, wenn man auf die Entstehung der beiden Phänomene zurückgeht. Der Staat ist das entfaltete politische, die Gesellschaft (im allgemeinen und die Wirtschaftsgesellschaft im besonderen) das entfaltete ökonomische Mittel!

Dieser Gedanke ist vom Ref. zuerst 1903 in einem Aufsatz „Die sozialökonomische Geschichtsauffassung“ im „Archiv für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie“ veröffentlicht, dann in seinem „Staat“ (Frankfurt a. M. 1908) nach der staats- und geschichtsphilosophischen, und in seinem Lehrbuch „Theorie der reinen und politischen Ökonomie“ (Berlin 1910) nach der wirtschaftsphilosophischen Seite hin ausgebaut und vertieft worden. Im folgenden seien Gedankengang und Terminologie kurz wiedergegeben.

Alles rationale Handeln des Menschen geschieht nach dem Prinzip des kleinsten Mittels, d. h. dem Bestreben, mit möglichst geringem Aufwande den möglichst grossen Erfolg einer Bedürfnissättigung zu erreichen. Aus diesem grössten Kreise hebt sich der engere Kreis der „Wirtschaft“ als deutlich gesondert heraus. Wirtschaft ist ein Spezialfall der „mittelbaren rationalen Bedürfnisbefriedigung“. Ausserwirtschaftlich ist erstens alle „unmittelbare Bedürfnisbefriedigung“, die überhaupt keines äusseren Objektes bedarf (z. B. der Spaziergang, der Geschlechts- oder Stillakt, die Meditation); und ausserwirtschaftlich ist zweitens alle „mittelbare Bedürfnisbefriedigung“, die zwar äusserer Objekte bedarf, aber keiner „kostenden“, keiner, die „Wertdinge“ sind, weil sie „kosten“. (Das bekannteste und wichtigste Beispiel für diesen Fall ist die Atmung, die sich des „freien Gutes“ der atmosphärischen Luft bedient.) Alle mittelbare Bedürfnisbefriedigung aber, die sich nicht „freier“ Güter und Dienste, sondern kostender Objekte, d. h. der Wertdinge, bedient, ist wirtschaftliche Bedürfnisbefriedigung. Und, da alles Wirtschaften sich erschöpft in der „Beschaffung“ von Wertdingen und ihrer „Verwaltung“, d. h. ihrer Bewahrung vor Verlust und Verderb, so ist Wirtschaft in exaktester Formel die Beschaffung und Verwaltung von Wertdingen (kostenden Objekten) nach dem Prinzip des kleinsten Mittels.

Nun ist in der älteren Literatur niemals recht beachtet worden, dass der Mensch im historischen Verlaufe sich zweier polar entgegengesetzter Mittel bedient, um bedurfte Wertobjekte für sich zu beschaffen, und zwar jeweils nach keinem anderen Kriterium als danach, welches von beiden im gegebenen Zeitpunkt für ihn das „kleinste Mittel“ darstellt. Diese beiden Mittel sind die entgoltene und die unentgoltene, oder besser: die äquivalente und die inäquivalente Aneignung oder Beschaffung. Die erste nenne ich das „ökonomische Mittel“; es zerfällt in zwei Unterarten: die Beschaffung von Wertdingen durch die eigene Arbeit und die Beschaffung durch einen als äquivalent betrachteten Tausch eigener Wertdinge gegen solche in fremdem Besitz. Die zweite Hauptart, die Aneignung fremder Wertdinge ohne äquivalente Gegenleistung, nenne ich das

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/134&oldid=- (Version vom 18.7.2021)