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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

„politische Mittel“; es kann bestehen in äusserer Gewalt: Raub, Krieg, Diebstahl, Notzucht, Nötigung – oder in Missbrauch geistigen Übergewichts; Betrug, Erweckung von Geisterfurcht usw.

So bestehen von allem Anfang der menschlichen Kultur an, so weit wir rückwärts sehen können, zwei in ihrer Wurzel verschiedene Arten von Beziehungen zwischen den Menschen und den menschlichen Gruppen: ökonomische, äquivalente – und politische, inäquivalente. Auf primitiver Hordenstufe (bei den Jägern) überwiegen intratribal die ökonomischen, intertribal die politischen Beziehungen. Indessen finden sich in der Ausbeutung der Frauen durch die Männer und aller durch die Medizinmänner bereits intratribal Ansätze zu politischen Beziehungen, während andererseits intertribal im Gast- und Handelsverkehr, in gemeinsamen Messen, Märkten und Festen sich Ansätze zu ökonomischen Beziehungen entwickelt haben.

In dem Masse, wie die menschlichen Gemeinschaften wachsen, sich konsolidieren und in wirtschaftliche Arbeitsteilung und -vereinigung treten, vermehren und verdichten sich auch jene ökonomischen und politischen Beziehungen zwischen den Menschen und den menschlichen Gruppen, entfalten sich nach ihren eigenen Entwicklungstendenzen, erschaffen sich Sitten und Gesetze, Institutionen und Anstalten, Vorstellungen und Überzeugungen als die kleinsten Mittel ihres möglichst erfolgreichen Ablaufs. Alle diese Dinge verflechten und durchdringen sich überall, sodass z. B. eine Sitte, ein Gesetz beiden dient, eine Anstalt beide Beziehungen gleichzeitig fördert; und dennoch kann ein geschultes Auge die Fäden auseinanderhalten, jeden Bestandteil dem ökonomischen Mittel hier, dem politischen dort mit grosser Wahrscheinlichkeit, in allem Wesentlichen sogar mit voller Gewissheit zuweisen.

Den Inbegriff aller durch das ökonomische Mittel gesetzten Beziehungen zwischen Menschen und Menschengruppen, – oder kürzer: das entfaltete ökonomische Mittel nenne ich „Gesellschaft“. Und auf der anderen Seite: den Inbegriff aller durch das politische Mittel gesetzten Beziehungen zwischen Menschen und Menschengruppen – oder kürzer: das entfaltete politische Mittel nenne ich „Staat“. Will man noch näher unterteilen, so kann man in der „Gesellschaft“ unterscheiden zwischen den durch die Arbeit gesetzten Beziehungen, der Produktionsgesellschaft einerseits, und den durch den äquivalenten Tausch gesetzten Beziehungen, der Tausch- oder Marktgesellschaft andererseits: und man kann innerhalb des „Staates“ unterscheiden zwischen den durch äussere Gewalt gesetzten Beziehungen, dem Staate im engeren Sinne, einerseits, – und den durch geistliche Gewalt gesetzten Beziehungen, der „Kirche“, andererseits. (Hierbei ist natürlich nur an herrschende Kirchen gedacht, wie sie etwa in Ägypten im Neuen Reich, in Tibet, im katholischen Früh-Mittelalter bestanden.)

A. Der Staat als das entfaltete politische Mittel.

Diese Auffassung des Staates als des entfalteten politischen Mittels lässt sich m. E. unwiderleglich beweisen, wenn man das einzige Kennzeichen des äusseren Aufbaues ins Auge fasst, das allen historischen Staaten gemeinsam ist, so verschieden sie sonst nach politischer und wirtschaftlicher Verfassung, nach Recht und Sitte, nach Rasse und Klima, nach Gebietsgrösse und Volksdichtigkeit usw. sein mögen. Dieses einzige gemeinsame Kennzeichen ist ihr Wesen als „Klassenstaat“: alle sind sie in soziale Rang- und ökonomische Vermögensklassen über- und untergeschichtet. Diese Klassen sind durch das politische Mittel geschaffen worden, wie die historische und ethnographische Induktion zeigt, und konnten nur durch das politische Mittel geschaffen werden, wie die Deduktion mit mathematischer Stringenz zeigt.

Die ältere ökonomische und staats- wie geschichtsphilosophische Theorie ist irrtümlicherweise von der gerade entgegengesetzten Konstruktion ausgegangen, und das ist die tiefste Wurzel aller ihrer Fehlgänge. Diese Konstruktion ist die sogenannte „ursprüngliche Akkumulation“, die schon aus der Stoa stammt. Danach bildet den Anfang der menschlichen Gemeinschaft ein Stamm freier und gleichberechtigter Menschen mit ungefähr gleichem Vermögen und Einkommen. Allmählich differenziert sich diese Gemeinschaft unter der Wirkung rein ökonomischer Kräfte in Vermögensklassen, die dann zu sozialen Rangklassen werden. Und zwar häuft sich das Vermögen in den Händen einzelner an durch Glück (Jakobs Herde, kleine Kinderzahl usw.), vor allem aber durch Fleiss, Sparsamkeit, Nüchternheit, Voraussicht usw.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/135&oldid=- (Version vom 18.7.2021)