Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/136

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Diese Auffassung (Marx nennt sie eine „Kinderfibel“) widerspricht zunächst aller geschichtlichen Erfahrung. Die Klassen sind überall da, wo wir die Geschichte „autogener“ Staaten genauer kennen, mit Gewissheit durch äussere Gewalt (Eroberung, Unterwerfung) oder durch geistliche Gewalt geschaffen worden. Eine scheinbare Ausnahme bilden nur die nicht autogenen, die Kolonialstaaten: hierhin sind die sozialen Klassen und vor allem das Klassenrecht fertig aus dem Mutterlande eingeführt worden. Mit dieser Einschränkung kann man aussprechen, dass die historische Induktion keine widersprechende Tatsache auffindet. Indessen ist die Überlieferung doch so lückenhaft, dass es vorteilhaft sein wird, auch noch deduktiv den Beweis zu erbringen, dass die Klassen und der Klassenstaat niemals durch das ökonomische Mittel entstanden sein können.

Es ist nie bestritten worden und kann nie bestritten werden, und alle Schulen stimmen denn auch darin überein, dass diese soziale und ökonomische Differenzierung innerhalb einer Gruppe von lauter Gleichen und Freien nicht eher beginnen kann, als bis alles Land okkupiert ist. Denn nicht eher gibt es „besitzlose Nurarbeiter“ oder „freie Arbeiter“ (Marx) – und vor Entstehung einer Arbeiterklasse kann man Grossgrundeigentum und Grosskapitaleigentum weder bilden noch verwerten! Kapital und besitzlose Arbeiterklasse sind Korrelatbegriffe. Jene Lehre nahm an, dass diese Okkupation allen Bodens, die Voraussetzung aller sozialen Differenzierung, bereits in Urzeiten dadurch vollzogen war, dass sich selbstbewirtschaftete Bauernhufen neben einander ordneten, bis das Land voll war, also eine rein-ökonomische Entwicklung. Die Annahme ist falsch! Jede Division des agrarischen Nutzlandes einer Nation durch die Zahl ihrer Landbevölkerung zeigt, dass noch heute überall viel mehr Land vorhanden ist, als unter dieser Annahme gebraucht würde. Während z. B. die altgermanische Hufe nur 7½ ha umfasste, könnte man heute sogar im dichtbevölkerten Deutschland jeder fünf köpfigen Landfamilie 10 ha Nutzland zuweisen. Hätte sich also jene vermeintliche ökonomische Okkupation vollzogen, so wäre noch heute in Deutschland der Zeitpunkt nicht erreicht, wo die Differenzierung in soziale Klassen erst sollte beginnen können. Damit ist bewiesen, dass die Okkupation des gesamten Grund und Bodens der Kulturwelt und die Entstehung von Grossvermögen einerseits und der Arbeiterklasse andererseits, d. h. die Bildung des historischen Klassenstaates, nicht durch das ökonomische, sondern das politische Mittel erfolgt ist. Die soziologische Theorie hat als ihren Ausgangspunkt nicht die Gesellschaft der Freien und Gleichen zu wählen, die nie und nirgend existiert hat, sondern die historisch überall verbürgte Gesellschaft der Freien, die über Unfreie herrschten. Das Grossvermögen hat sich nicht durch ursprüngliche Akkumulation allmählich differenziert, sondern ist sofort bei der Staatsgründung als deren Zweck durch einseitige Gewalt, durch das politische Mittel, gesetzt worden; und die sozialen Rangklassen sind nicht aus der Vermögensverschiedenheit entstanden, sondern gingen ihr voraus. Nicht wirtschaftliches, sondern kriegerisches (und geistliches) Übergewicht haben sie ins Leben gestellt.

Das derart durch Gewalt entstandene Eigentum (Dührings „Gewalteigentum“) tritt historisch primär in drei Formen auf, von denen die beiden früheren unbestritten „politisches Mittel“ sind: Sklaverei und Hörigkeit; die dritte primäre Form ist die Sperrung des Grund und Bodens durch die Oberklasse gegen das Siedlungsbedürfnis der Unterklasse, d. h. ihre Absperrung kraft Rechtens von ihrem Produktionsmittel. Die privatrechtliche Form dieser Aussperrung ist das Grossgrundeigentum. Überall hat die Oberklasse allen noch nicht von selbstwirtschaftenden Bauern besiedelten Boden unter sich verteilt, sodass kein Nicht-Landbesitzender Zugang zu Boden finden kann, ohne ihr den Tribut der Grundrente zu entrichten. Diese künstliche, rechtliche Beschränkung des Vorrats an Land wirkt natürlich genau so auf die Differenzierung der Vermögen und Einkommen, als handelte es sich um jene natürliche Knappheit des Bodens, die die ältere Theorie als gegeben annahm. (Brot steigt genau so im Preise, wenn es infolge schlechter Ernten, als wenn es infolge einer Sperre, etwa während einer Belagerung oder durch Spekulanten, im Verhältnis zum Begehr knapp vorhanden ist.) Die Klasse „freier, besitzloser Nurarbeiter“ muss sich bilden, wo sie nicht etwa schon historisch überkommen ist; das Grossgrundeigentum lässt sich immer besser „verwerten“ in dem Masse, wie mit steigender Bevölkerung die Erträge und die Preise der Nahrungsmittel wachsen. Und jetzt ist überall da, wo die Freizügigkeit besteht, auch jenes „Kapitalverhältnis“ (Marx) gegeben, ohne das ein Stamm von produzierten Produktionsmitteln nicht „Kapital“

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 116. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/136&oldid=- (Version vom 18.7.2021)