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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

den sozialen Zusammenhang harmlose Einzelphänomene, d. h. in viel geringerer Zahl auftreten. Während heute die hygienischen und sittlichen Schäden in einer „Kollektivschuld der Gesellschaft“ wurzeln (A. von Oettingen) und im Sinne der Rassenhygiene „kontraselektorisch“ wirken (C. Ploetz), werden sie in der „Freibürgerschaft“ individuelles Schicksal sein und „selektorisch“ wirken. Die Tuberkulose z. B. rafft heute unzählige von Geburt aus „überdurchschnittliche Konstitutionskräfte“ dahin, während sie in der reinen Gesellschaft nur die „unterdurchschnittlichen“ „ausjäten“ wird.

In der realen „staatlich“ durchsetzten Gesellschaft liegt es schmerzlich anders. Schon Aristoteles sprach aus, dass in einer von Klassengegensätzen zerspaltenen Gesellschaft weder politische, noch moralische Sicherheit bestehe. Politische Eintracht ist unmöglich, denn „die Nationen sind in zwei Völker gespalten, die sich gegenseitig feindlich belauern“, und die Oberklasse hat hier die Laster der αὶκία καὶ μοιχεία (Hochmut und geschlechtliche Ausschweifung), während die Unterklasse durch Knechtssinn und Unehrlichkeit befleckt wird (furtum est delictum servile). Solche Folgen der Klassenscheidung sind unleugbar und verzweigen sich durch das ganze Leben der Gesellschaft. Es ist hier nicht der Raum, um das weite Thema ausführlich zu behandeln; indessen mögen einige Beispiele gegeben werden:

Wie sehr das gesellige Leben durch die Klassenunterschiede beeinflusst wird, bedarf keiner näheren Ausführung. Nicht nur Hochmut oben und Knechtseligkeit unten, auch das üble Wesen des Emporkömmlings, Parasitentum und Byzantinismus, politische und religiöse Heuchelei, wachsen nur aus dieser Wurzel. Wo der Staat Prämien auf das Strebertum setzt und Zurücksetzung oder gar Strafen auf den Freimut legt, kann die allgemeine Sittlichkeit kaum gedeihen. – Unsere Kriminalstatistik berichtet vorwiegend von Eigentumsverbrechen; sie sind als Massenerscheinung in einer reinen Gesellschaft undenkbar, ebensowenig Rohheitsverbrechen und solche Verbrechen und Vergehen, die, wie Widerstand gegen die Staatsgewalt, vorwiegend aus der Empörung der Unterklasse gegen den „Staat“ erwachsen. – Ebensowenig ist die Prostitution als Massenerscheinung hier denkbar, und zwar die legitime Prostitution der Versorgungs- und Geldehen ebensowenig, wie die illegitime der Käuflichkeit. – Das religiöse Leben wird heute vergiftet und vergällt durch die Tatsachen, dass die „Kirchen“ entweder selbst „politisches Mittel“ sind oder doch als Staatskirchen dem Klassen-Monopol dienen. – Diese Andeutungen müssen hier genügen.





11. Abschnitt.


a) Staat und Recht.
Von
Geh. Justizrat Dr. Josef Kohler, LL. D.
o. Professor der Rechte an der Universität Berlin.


Literatur:

Meh-ti (chinesischer Philosoph), l’idee de la solidarité (übersetzt von David) p. 57 f.
Aristoteles, Politik p. 1252 f.
Thomas von Aquin, Summa theol. I 2 qu. 90.
Dante Monarchia, I 16.
Hugo Grotius, de jure belli ac pacis I 1, 14 und II 5, 23.
Hobbes, Leviathan c. 14 f.
Locke, On governement § 77 f, 95 f.
Spinoza, Tractatus theologico-politicus c. XVI 12 f.
Pufendorf, de jure naturae et gentium VII 1.
Vico, Scienza nuova (Ed. Nicolini) p. 171 f.
Rousseau, Oeuvres IV p. 428 f, V p. 63 f.
Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. § 44 f.
Fichte, Grundlage des Naturrechts (1796) § 17.
Hegel, Rechtsphilosophie § 182 f, 257 f.
Hegel’s Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie, herausgegeben von G. Lasson. (1913).
Lasson, System der Rechtsphilosophie, S. 162 f, 389 f.
Nietzsche, Nachgelassene Werke, XIII S. 194 f.
Spencer, Prinzipien der Soziologie (Übersetzung Vetter) I S. 522 f.
Berolzheimer, System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie III. Philosophie des Staates.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 120. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/140&oldid=- (Version vom 19.7.2021)