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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Eisler, Soziologie S. 53 f .
Cathreiner, Moralphilosophie (5. Auflage) II S. 387 f, 462 f.
Kohler, Rechtsphilosophie S. 38, 142, 203.
Kohler. In der Enzyklopädie der Rechtswissenschaft (2. Aufl.) I S. 1 f.
Kohler, Das Recht (in Buber, die Gesellschaft).
Kohler, Zur Urgeschichte der Ehe.


Das Recht entspringt aus der menschlichen Gemeinschaft und beruht darauf, dass die einzelne Persönlichkeit zwar nach einer Seite hin in der Gesellschaft und ihren Gesamtbildungen aufgeht, aber nur um nach der anderen Seite hin als Einzelwesen ihre Geltung zu erlangen und im Streben nach Selbstverwirklichung der Menschheit zu dienen.

Diese Stellung des Menschen beruht auf seiner gesellschaftlichen Natur: er wird, ähnlich wie in der Tierwelt das Herdentier, sich nur im Zusammenhalte wohl fühlen und nur hier etwas Beträchtliches leisten. Daher finden wir den Menschen von jeher in Gruppen : sämtliche uns bekannten Naturvölker leben in mehr oder minder innigen Horden zusammen; und wo die Hordenbildung ihren Zusammenhalt verlor oder gar zur Auflösung gelangte, hat auch die Bevölkerung ihren Halt verloren, und ihre Bedeutung für das Kulturleben ist dahin.

Man wird die ursprünglichen Gruppen und Horden nicht wohl als Staaten in unserem Sinne bezeichnen können. Sie haben zwar eine Herrschaft, die bald einem Einzelnen, bald der Versammlung der Erwachsenen, bald den Greisen, bald ausgewählten Personen zukommt, sie haben einen Zusammenhalt in ihrer Religion und in ihren religiösen Gebräuchen, sie bilden sich ein, von göttlichen Mächten erfüllt zu sein, und führen auf diese Weise ein genossenschaftliches Leben, das sich bald in Festen, bald in entbehrungsvollen Gebräuchen äussert. Der Einzelne aber muss hierbei den Geboten der Gesellschaft folgen und insbesondere in seinem ehelichen Leben, in dem Leben als Hordengenosse diejenigen Grundsätze beobachten, welche die Gesamtheit als dem göttlichen Wesen entsprechend erachtet. So ist das Recht bei diesen Völkern zum grössten Teil Hordenrecht, und zwar oft ein recht verwickeltes Hordenrecht. Daneben entsteht eine Menge von Gebräuchen, die sich nicht zum Recht verdichten, die aber doch beobachtet werden, weil man aus der Zuwiderhandlung die Nachteile göttlichen Zornes und ungünstigen Geschickes befürchtet.

Allmählich, nachdem die materielle Kultur sich entwickelt hat und die Völker zur Bodenpflege gelangt sind, tritt auch das Verhältnis zwischen Mensch und Natur stärker hervor. Die Natur wird in das menschliche Bereich gezogen, sie wird aus dem religiösen Frieden, in dem sie lag, aufgestört und den menschlichen Göttern unterworfen. Daher der verbreitete Brauch, durch Opfer und Sühnung die Götter zu begütigen, welche der rücksichtslose Eingriff in das Naturwalten verletzt hat. So entwickelt sich der Begriff des Eigentums, zuerst als Gesamteigentum und dann allmählich immer mehr als ein „Präcipuum“ desjenigen, der durch seine Arbeit sich mit der Sache in nähere Beziehung gesetzt hat. Die Verbindung zwischen Person und Sache ist zuerst eine religiöse, dann eine profan weltliche.

In der Horde erwirbt bald ein Institut die Hauptbedeutung, die Familie. Die Familie, nicht als Einzelfamilie, sondern als ganzes Geschlecht, als Gesamtheit der Personen, die in kenntlicher Verwandtschaft zu einander stehen, erfüllt lange Zeit eine Menge von Aufgaben der Kultur, welche die Horde nicht übernimmt oder auch gar nicht übernehmen kann. Allerdings erfolgt diese Kulturtätigkeit in eigenartiger Weise: während die Familie den Einzelnen an sich zieht, stossen sich die Familien gegenseitig ab und verbinden sich nur zu gewissen wichtigen Akten gemeinsamen Interesses. Auf diese Weise entstehen die Familienkämpfe, die Geschlechterkriege, welche ein so reiches Blatt in der Geschichte der Menschheit bilden und deren Erinnerung noch Jahrhunderte lang in Mythen und Gesängen nachklingt. Ein Element allerdings muss die Familien immer wieder einigen, nämlich die gegenseitige Eheschliessung, denn es gilt schon lange her als Gesetz, dass die Ehe nicht in demselben Geschlecht, sondern in einem anderen Geschlechte geschlossen werden muss. Und so stossen die Familien sich ab und vereinigen sich wieder.

Allmählich tritt das Einzelwesen kräftig und kräftiger hervor und sucht sich zur Geltung zu bringen, aber immer noch steht es unter der Disziplin der Familie, in letzter Instanz unter der Disziplin der Horde und muss sich seine Selbständigkeit mit Mühe erkämpfen.

In dieser Verfassung finden wir beispielsweise die griechischen Stämme nach der dorischen Völkerwanderung. Der Stamm selber bildet eine etwas lose Einheit der Geschlechter, Phylen, Phratrien, die sich wieder in Untergeschlechter teilen, und auf solche Weise ist die grössere Einheit durch die kleineren Gesamtheiten ständig in Schach gehalten.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 121. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/141&oldid=- (Version vom 19.7.2021)