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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Eine der bedeutendsten Entwicklungen ist es nun, wenn das Geschlechtertum seine Kraft verliert und an Stelle dessen die örtliche Vereinigung der Stadt oder des Staates zur Geltung gelangt. Jetzt ist es nicht mehr die Familie, sondern der Staat, der die allgemeinen Interessen wahrnimmt, den Einzelnen im Zaum hält, dem Schwachen aufhilft, und an Stelle des Familienhauptes tritt der König oder in republikanischen Staaten das zeitweilige Staatsoberhaupt, der Kosme, und der Senat oder der Rat der Alten. Jetzt erst ist die Gesellschaft zum wahren Staate geworden, und der Gedanke, dass diese eine Gemeinschaft die wichtigsten Interessen zu wahren oder auch gar zu erfüllen hat, charakterisiert die moderne Zeit. Vielfach sucht der Staat durch gewisse Zwangsmittel den Einfluss der Geschlechter zu brechen; er fordert die gemeinsame Erziehung der Knaben, die gemeinsame Heerbildung der Männer, und so kommt es nicht selten, dass an Stelle der Familiengemeinschaft andere Gemeinschaften treten: Jünglingsgenossenschaften, Hetärien und dergleichen, welche dazu beitragen, den Einfluss der Familien und Geschlechter abzulenken.

Der Staat selber wird von Hegel als die Verwirklichung der sittlichen Idee bezeichnet und in fast überschwenglicher Weise gepriesen. Hegel sieht mit einer gewissen Geringschätzung auf diejenigen Zeiten herab, die noch nicht zu einer eigentlichen Staatsentwickelung gelangt sind, und nimmt an, dass erst im Staate eigentlich Kultur und Recht entstehen. Dies ist eine Übertreibung; aber richtig ist, dass die Rechtsbildung im Staate in gesteigertem Masse erfolgt und dass insbesondere, nachdem der Staat geworden ist, bedeutende Denker und Lebenskünstler die Staatsaufgabe erfassen und Anordnungen treffen, welche als geeignet erscheinen, den Fortschritten der Sittlichkeit, der Pflege des Schönen und der wissenschaftlichen Erkenntnis zu dienen; und auch die Verwirklichung des Rechtes durch Staatsorgane, durch Gerichte und Vollstreckungsbehörden kann in einer Weise erfolgen, welche bisher vergeblich erstrebt worden ist.

Dagegen kann nicht behauptet werden, dass der Staat die einzige Verwirklichung der Kulturidee ist; nicht nur müssen unter der Herrschaft des Staates kleinere Gemeinschaften bestehen, welche in einer gewissen selbständigen Weise die Prinzipien, die der Staat aufgestellt hat, im einzelnen durchführen; diese Gemeinschaften sind jetzt nicht mehr Familien, Geschlechter, Landsmannschaften, sondern örtliche Gemeinschaften, Provinzen, Gemeinden usw.; und je reichhaltiger die Ziele sind, welche die Menschheit sich steckt, und je eifriger die Bevölkerung an ihrer Verwirklichung arbeitet, um so mehr werden Vereine und Gesellschaften aufschiessen und ein Recht für sich verlangen. Vor allem wird der Vermögenstrieb zu neuen Vergesellschaftungen führen: man wird gemeinschaftliche Unternehmungen veranstalten, um die Natur zu besiegen, die Naturprodukte zu verarbeiten und sie in Handel zu bringen. Und so bildet sich neben der staatlichen Genossenschaft eine Fülle privater Genossenschaften, Gesellschaften, Vereine: Vermögen und Vermögen, Vermögen und Arbeit verschwistern sich, und unter dem Schutze des Staates wirken neue und mächtige Gemeinschaften.

Aber auch ideale Mächte ziehen eine Fülle menschlicher Bestrebungen an sich, und erwerben oft gegenüber dem Staat eine selbständige Stellung. Die Kirche lenkt die Menschheit zu neuen Zielen und macht ihre Ideale auch dem Staat gegenüber geltend. Es entstehen Konflikte, welche sich allmählich in dem Sinne lösen, dass das äussere Rechtsleben dem Staate allein überlassen wird, die Kirche aber um so mehr an der Fortbildung des inneren Menschen arbeitet. Auf der anderen Seite lässt sich die strenge Trennung der Staaten nicht mehr aufrecht erhalten, und der völkerrechtliche Verkehr bildet die Brücke zu Staatsgebilden, in welchen der einzelne Staat mehr oder minder sein Recht einem grösseren Ganzen überantwortet; so entstehen Staatenbünde mit Vergesellschaftung der staatlichen Tätigkeit, so entsteht schliesslich der Bundesstaat, jene grossartige Schöpfung der Vereinigten Staaten, welche seinerzeit allerdings schon der griechische Geist versucht, welche aber erst die englisch-amerikanische Energie vollendet hat. In Bundesstaaten hat sich der Norden, wie der Süden Amerikas zurechtgefunden, und Deutschland und die Schweiz, ehemals lose Staatenbünde haben durch die bundesstaatliche Verfassung Kraft und Stärke gewonnen.

In diesen Gemeinschaften wirkt nun das Recht.

Die Gemeinschaft gibt dem Einzelnen seine Stellung als Persönlichkeit mit allem, was damit zusammenhängt; sie sichert ihm seine Selbständigkeit in der Familie, die sich jetzt allerdings auf

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 122. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/142&oldid=- (Version vom 19.7.2021)