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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

den vom Parlamente beschlossenen Gesetzen seit fast zweihundert Jahren niemals Gebrauch gemacht, vielmehr stets die zum Inkrafttreten erforderliche Sanktion erteilt hat; obgleich es in Wahrheit das Parlament ist, welches die Besetzung des Kabinetts bestimmt, und obgleich es richtig ist, dass in Wirklichkeit nicht der König, sondern das Kabinett die Beamtenernennung und viele andere königlichen Prärogative in der Hand hat,[1] so kann doch, solange der König überall der Ausgangspunkt aller staatlichen Funktionen bleibt, in dem parlamentarischen Regierungssystem keineswegs das Ende der monarchischen Herrschaftsform erblickt werden.[2]

Ähnlich wie England tragen noch eine Reihe anderer europäischer Staaten den Charakter parlamentarischer Monarchien, so namentlich Belgien, Griechenland, Italien und Spanien.[3] Im einzelnen zeigen die Verfassungen dieser Staaten natürlich grosse Verschiedenheiten. Sie lehren uns, dass unter dem Zeichen der monarchischen Herrschaftsform eine unendliche Mannigfaltigkeit der Unterformen besteht, und dass selbst die verfassungsmässige Anerkennung der Volkssouveränität, wie sie z. B. in Belgien erfolgt ist,[4] sich noch mit dem Wesen der Monarchie vereinbaren lässt.

Dass in manchen Fällen der Politiker einen Staat unter einer anderen Kategorie einstellen wird als der Jurist, wird sich bei der häufig bestehenden Divergenz der konkreten Machtverhältnisse und der verfassungsrechtlichen Lage der Dinge allerdings niemals vermeiden lassen. –

B) Die Mehrherrschaft.

1. Das Wesen der Mehrherrschaft.

Mehrherrschaft, Pleonarchie oder Pleonokratie ist diejenige Herrschaftsform, bei welcher die Staatsgewalt nicht einer einzelnen, sondern einer Mehrzahl von physischen Personen zusteht. Wie gross diese Zahl ist, ob sie zwei oder drei Individuen, ein halbes Dutzend oder mehrere Dutzende von Personen oder die Gesamtheit aller Staatsbürger umfasst, ist dabei begrifflich gleichgültig. Gleichgültig ist auch, auf welche Weise diese Personen zur Herrschaft berufen werden, ob sie die Herrschaft mittelbar oder unmittelbar, durch einen oder durch mehrere Vertreter ausüben, ob sie bestimmten Bevölkerungskreisen angehören müssen, ob sie eine bestimmte Qualifikation nachzuweisen haben oder ob dies nicht der Fall ist. Wesentlich ist dagegen, dass die Bildung des höchsten staatlichen Willens in der Mehrherrschaft – anders wie in der Einherrschaft – niemals durch einen bloss natürlichen psychologischen Vorgang, sondern stets durch einen künstlichen juristischen Prozess, nämlich durch das verfassungsmässige Zusammenwirken verschiedener Einzelwillen, zustande kommt.[5]

2. Arten der Mehrherrschaft.

Je nach der Zahl, Stellung und Beschaffenheit der höchsten Träger der Staatsgewalt und ihrer berufenen Vertreter unterscheiden wir bei der Mehrherrschaft eine Reihe von Unterformen, von welchen hier folgende hervorgehoben werden:

a) Die Aristokratie oder „aristokratische Republik“.[6])

Die aristokratische Herrschaftsform besteht darin, dass die Staatsgewalt nicht einem Einzelnen und nicht der Volksgesamtheit, sondern einer grösseren oder kleineren Zahl


  1. S. Jellinek, S. 664 (681).
  2. Bezüglich der rechtlichen und tatsächlichen Gestaltung des englischen Parlamentarismus s. Hatschek, Engl. Staatsrecht, I. B. und die dort angegebene Literatur.
  3. S. Jellinek, S. 688 (705).
  4. Vgl. Smend, Die Preussische Verfassungsurkunde im Vergleich mit der Belgischen, 1904.
  5. Vgl. hierzu Jellinek. S. 694 (710 ff.).
  6. Vgl. hierüber im allg. u. a. Schvarcz, Elemente der Politik, S. 80 ff., Bluntschli i. s. Staatswörterbuch B. I. (1857), S. 332 ff., v. Rotteck i. s. Staats-Lexikon, B. I (1834), S. 675 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 146. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/166&oldid=- (Version vom 25.7.2021)