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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Ungeachtet des häufigen Wechsels der Verfassungen ruht die Organisation des französischen Staates seit 1789 unverändert auf dem Prinzip der Volkssouveränität. Alle Organe des Staates, die Abgeordnetenkammer, wie der Senat und der Präsident, führen die ihnen zustehenden Machtbefugnisse auf Verleihung von seiten des Volkes zurück – die Abgeordnetenkammer direkt, die beiden anderen Organe indirekt. Jegliche Macht wird im Namen des Volkes ausgeübt, das demnach als Träger der Staatsgewalt erscheint. Jedoch ist nicht unmittelbar das Volk, sondern seine Vertretung zur Ausübung jener Macht berufen.

Die Verteilung der einzelnen staatlichen Funktionen an die vorgenannten Staatsorgane erfolgte im allgemeinen auf der Grundlage der Montesquieu’schen Gewaltenteilung. Die gesetzgebende Gewalt wird von zwei Versammlungen, der Abgeordnetenkammer (Deputiertenkammer) und dem Senat geübt, deren übereinstimmende Mehrheitsbeschlüsse als Staatswillen gelten. Die erstere geht aus allgemeinen, gleichen und unmittelbaren Wahlen hervor; die Bedingungen der Wahlberechtigung und der Wählbarkeit sind für jeden Franzosen männlichen Geschlechts erfüllbar. Der Senat geht aus indirekten Wahlen hervor, und zwar werden seine Mitglieder von Wahlkollegien der Departements und der Kolonien gewählt, die aus den Deputierten, den General- und Arrondissementsräten und aus besonders bestellten Delegierten der Munizipalräte gebildet sind. Beide Körperschaften haben das Recht der Gesetzesinitiative; jedoch müssen Finanzgesetze zuerst der Deputiertenkammer vorgelegt und von ihr genehmigt werden, ehe sie an den Senat gelangen können. Zu bestimmten Zwecken, namentlich zur ßeschlussfassung über Verfassungsänderungen und zur Präsidentenwahl treten beide Kammern zur „Nationalversammlung“ zusammen, der mit dem Rechte der Verfassungsänderung die höchste Gewalt im Staate anvertraut ist. Dem Volke unmittelbar steht keine rechtliche Einwirkung auf die Beschlüsse der Nationalversammlung zu.[1] Der auf sieben Jahre gewählte Präsident der Republik ist insbesondere das oberste Organ der vollziehenden Gewalt. In dieser Eigenschaft steht ihm namentlich die Ausfertigung und Ausführung der Gesetze, die Ausübung des Begnadigungsrechts, die Ernennung von Zivil- und Militärbeamten, die Verfügung über die bewaffnete Macht und die Wahrung der auswärtigen Beziehungen zu; zur Kriegserklärung bedarf er der vorherigen Zustimmung der beiden Kammern. Neben diesen exekutiven Befugnissen hat der Präsident aber auch gesetzgeberische Funktionen und zwar insbesondere – wenn wir von der Regulierung der Geschäfte der Kammern absehen – das Recht der Initiative für gewöhnliche Gesetze und für Verfassungsrevisionsgesetze, beides in gleicher Weise wie die Kammern, mit der Massgabe, dass diese zu einer Prüfung und weiteren geschäftlichen Behandlung der vorgelegten Entwürfe verpflichtet sind.[2] Alle Regierungshandlungen des Präsidenten bedürfen der Gegenzeichnung eines Ministers, der hierfür die Verantwortlichkeit übernimmt. Der Präsident selbst ist unverantwortlich, ausser im Falle des Hochverrats (Verletzung der Gesetze oder der Verfassung und Verrat des Staates an ein fremdes Land), in welchem Fall die Deputiertenkammer die Anklage zu führen und der Senat das Urteil zu sprechen hat.[3] Die Verantwortlichkeit der Minister findet ihr notwendiges Korrelat in deren Unabhängigkeit, einerseits gegenüber dem Präsidenten, andererseits gegenüber den Kammern. Die Minister können sich jedem Versuche einer zwangsweisen Beeinflussung durch die Demission entziehen. Eine solche Demission kann aber auch von der Parlamentsmehrheit erzwungen werden mit der regelmässigen Folge, dass der vom Präsidenten neu zu ernennende Minister der Parlamentsmajorität angehören muss. Es herrscht also das parlamentarische Regierungssystem.[4]

Wesentlich komplizierter als bei der französischen Republik gestaltet sich das Bild der repräsentativen Demokratie in zusammengesetzten Staaten, wie es die Schweiz und die Vereinigten Staaten von Amerika sind.


  1. Vgl. im einzelnen Lebon, S. 135 ff.
  2. Vgl. Lebon S. 41 ff.
  3. S. Lebon. S. 56 ff.
  4. S. Lebon, S. 30–32. Vgl. auch oben S. 145.
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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/170&oldid=- (Version vom 25.7.2021)