Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/171

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Die nordamerikanische Union bietet die erste praktische Lösung der beiden, staatsrechtlich und politisch gleich schwierigen, Probleme der „Herstellung einer Demokratie für ein grosses Volk und Gebiet“ und der „Schaffung eines starken Gemeinwesens in der Form des Bundes.“[1] Als Träger der Staatsgewalt der Vereinigten Staaten erscheint nach den Eingangsworten der amerikanischen Verfassung von 1787 „the People of the United States“, das ist die gesamte Bevölkerung sämtlicher amerikanischen Gliedstaaten. Die Gliedstaaten haben jeder für sich ebenfalls wieder die demokratische Herrschaftsform, so dass die Gesamtverfassung durchaus dem Gedanken Moutesquieu’s Rechnung trägt: „Der Bundesstaat soll aus Staaten von derselben Natur, namentlich aus Republiken bestehen.“[2] Auch in bezug auf die Verteilung der staatlichen Gewalten folgt die Verfassung der Union der Lehre Moutesquieu’s. Die gesetzgebende Gewalt ruht in der Hand des Kongresses, der aus dem Hause der Repräsentanten und dem Senate besteht.[3] Die Mitglieder des Repräsentantenhauses werden staatenweise nach näherer Vorschrift der einzelstaatlichen Gesetzgebung je auf zwei Jahre vom Volke gewählt. „Die Wähler in jedem Staat brauchen nur die Eigenschaften zu haben, die für die Wähler der zahlreichsten Kammer der gesetzgebenden Versammlung des Staates erforderlich sind.“ Der Senat besteht aus je zwei Senatoren aus jedem Gliedstaat, die von der gesetzgebenden Versammlung des betreffenden Staates je auf sechs Jahre gewählt werden, ohne jedoch hierdurch etwa die Eigenschaft von Delegataren ihres Staates zu erhalten. Jeder Senator hat eine Stimme und ist von jedweder Weisung unabhängig. Die Wählbarkeit zum Senat ist an bestimmte, für jeden Staatsangehörigen erfüllbare Bedingungen geknüpft. Präsident des Senats ist der Vizepräsident der U. S. Der Senat hat, abgesehen von dem Recht der Mitwirkung bei der Gesetzgebung, insbesondere die ausschliessliche Befugnis, bei politischen Anklagen des Repräsentantenhauses das Urteil zu fällen; bei Anklagen gegen den Präsidenten führt der Präsident des obersten Bundesgerichts den Vorsitz. Die vollziehende Gewalt steht im wesentlichen dem Präsidenten der Union zu, der ebenso wie der eventuell an seine Stelle tretende Vizepräsident in indirekter Wahl auf je vier Jahre gewählt wird. Die Wahl geschieht durch Wahlmänner, welche in jedem Staate in der gleichen Zahl, wie jeder Staat Mitglieder zum Senat und zum Repräsentantenhause stellt, nach Landesrecht gewählt werden. Der Präsident ist oberster Befehlshaber der Land- und Seestreitkräfte der Union, hat vorbehaltlich der verfassungsmässigen Mitwirkung des Senats das Recht, Verträge mit anderen Staaten zu schliessen und die Mehrzahl der Beamten zu ernennen, sorgt für den ordnungsgemässen Vollzug der Gesetze, gibt dem Kongress von Zeit zu Zeit über die Lage der Union Auskunft (Botschaften) und hat für bestimmte Fälle die Befugnis der Zusammenberufung und der Vertagung der beiden Häuser des Kongresses. Das Recht der Kriegserklärung steht ausschliesslich dem Kongresse zu. Der Einfluss des Präsidenten auf die Gesetzgebung beschränkt sich auf ein suspensives Veto, dessen Wirksamkeit durch qualifizierte Mehrheitsbeschlüsse beider Häuser aufgehoben werden kann, und auf die Befugnis, in der Form von Botschaften, den Erlass von Gesetzen anzuregen. Die eigentliche Gesetzesinitiative steht ausschliesslich den beiden Häusern des Kongresses zu.[4] – Die richterliche Gewalt liegt in der Hand unabhängiger Gerichte.




  1. Vgl. hieher und zum folgenden Seydel, Verfassung und Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, Abhandlgn., S. 32 ff., ferner Otto Mayer, Republikanischer und monarchischer Bundesstaat. Arch. f. öff. R. XVIII, S. 337 ff. (bes. S. 350 ff).
  2. Vgl. Montesquieu, der Geist der Gesetze, hgg. v. Ellissen, 1843, 9. Buch, 2. Kap.
  3. Vgl. im einzelnen Rentner. Die Verfassung f. d. Ver. Staaten von Amerika, 1901, S. 51 ff., v. Holst a. a. O., S. 14 ff.
  4. Seit etwa 20 Jahren besteht in den Ver. St. eine sehr einflussreiche Bewegung zu Gunsten der Einführung der sog. direkten Gesetzgebung vermittelst der Initiative und des Referendums. In einer Reihe von Gliedstaaten (s. oben S, 149 Anm. 94) ist die indirekte Gesetzgebung schon eingeführt (vgl. George Iudson King, a. a. O.).
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 151. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/171&oldid=- (Version vom 25.7.2021)