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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

mit Leichtigkeit ein freies Zusammenwirken der Menschen zustande kommen und alle Leistungen des Staates weit übertreffen werde. Der Anarchismus hat freilich zu allen Zeiten seinem Ideal eine wissenschaftliche Begründung zu geben gesucht, wie sie dem Zeitgeist und den gerade herrschenden philosophischen Anschauungen entsprach. Seine wirkliche Grundlage ist doch immer nur jenes Gefühl von der Güte und Würde der Menschennatur gewesen, das ihn noch unvergleichlich kräftiger belebt als den Liberalismus.

2. Godwin, Stirner.

Im Jahre 1793 veröffentlichte der englische Geistliche William Godwin (1756–1836) sein umfangreiches Werk An enquiry concerning political justice and its influence on general virtue and happiness. In ihm sind zuerst die Grundgedanken des Anarchismus mit Entschiedenheit ausgesprochen.

Nach Godwin muss Richtschnur unseres Handelns das Wohl der Gesamtheit sein. Der Staat aber ist eine Einrichtung, die dem Wohl der Gesamtheit im höchsten Masse widerstreitet. Jede Regierung ist Tyrannei, die Monarchie wie die Republik, denn in der einen wie in der andern ist die Selbständigkeit unserer Entschliessungen vernichtet und dadurch aller Fortschritt gehemmt. Deshalb muss der Staat beseitigt werden. Die Menschen sollen allerdings auch in Zukunft Gesellschaften bilden, aber diese Gesellschaften soll kein Zwang, nicht einmal der von Verträgen, zusammenhalten. Jeder Einzelne soll nur das Wohl der Gesamtheit im Auge haben, so wird ein völlig freies Zusammenwirken alle die Aufgaben erfüllen, die im gemeinsamen Interesse erfüllt werden müssen.

Wie der Staat so verstösst nach Godwin auch das Eigentum wider das Wohl der Gesamtheit. Das Eigentum verteilt die Güter in der ungleichmässigsteii und willkürlichsten Weise und hindere dadurch ebensosehr die geistige Entwicklung der Menschheit wie ihren sittlichen Fortschritt. An die Stelle des Eigentums muss deshalb eine freie Güterverteilung treten, die jedem Menschen gibt, was er bedarf.

Der neue Zustand soll nach Godwin auf friedliche Weise herbeigeführt werden. Unermüdlich müssen diejenigen, die die Wahrheit erkannt haben, sie verkünden und so die anderen überzeugen. Man darf hoffen, dass auf diese Weise in nicht zu ferner Zeit der Staat und das Eigentum wie Wahngebilde verschwunden sein werden.

Diese edlen Gedanken eines weltfremden Menschenfreundes tragen noch ganz das Gepräge des achtzehnten Jahrhunderts. Sie haben wenig Einfluss gehabt. Fünfzig Jahre lang sind sie die einzige anarchistische Lehre geblieben. Erst um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts kam der bayerische Mädchenschullehrer Johann Caspar Schmidt (1806–1856) von einem ganz anderen Ausgangspunkt aus ebenfalls zur Verwerfung des Staates. Unter dem Namen Max Stirner, unter dem er fortlebt, veröffentlichte er 1845 sein Buch Der Einzige und sein Eigentum.

Stirner erkennt keinerlei Pflicht an. Für jeden Einzelnen muss sein eigener Vorteil das höchste Gesetz sein. Der Staat, der sich die Förderung des Gesamtwohls zum Ziele setzt, ist eben dadurch der Todfeind des Einzelnen, er beengt ihn auf Schritt und Tritt. An die Stelle des Staates muss „der Verein von Egoisten“ treten, das heisst nicht etwa eine Vertragsgemeinschaft, sondern ein freies Zusammenwirken von Menschen, die alle nur ihren eigenen Vorteil im Auge haben.

Ganz auf dieselbe Weise wie den Staat verwirft Stirner auch das Eigentum. Er erblickt darin eine lächerliche Einschränkung der persönlichen Freiheit. Nach ihm soll die Güterverteilung lediglich auf Macht beruhen, ein jeder soll das haben, worüber man ihm die Gewalt nicht zu entreissen vermag.

Das Mittel aber, um den erstrebten Zustand herbeizuführen, soll die Gewalt sein. Staat und Eigentum können nach Stirner nur von frecher Willkür beseitigt werden, und man darf in dem Kampfe gegen sie vor keinem Mittel zurückschrecken.

Alles dies wird von Stirner mit einem ungeheuren Aufwand an grossen Worten und einem gewissen geistigen Kraftmaiertum vorgetragen, wie es um die Zeit der Märzrevolution in Deutschland Mode war. Gänzlich unpraktisch wie sie sind, haben auch Stirners Gedanken keinerlei Einfluss erlangt. Gleich den Spekulationen Godwins sind sie blosser Lesestoff geblieben.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/192&oldid=- (Version vom 25.7.2021)