Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/195

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

sich anbahnen: das europäische Eisenbahnnetz, die Gewerkschaften, die Arbeitgeberverbände und die Kartelle, die Gesellschaft für Rettung Schiffbrüchiger und das Rote Kreuz, dies und vieles Ähnliches liefert ihm den Beweis, dass dem Vertragsgedanken die Zukunft gehört und dass freie Vereinigungen alsbald alle Aufgaben des Staates übernehmen werden. Sehr anschaulich stellt er uns dar, wie sich in der künftigen Gesellschaft freie Gemeinden bilden und sich zu den verschiedensten Zwecken, z. B. zur Beschaffung von Lebensmitteln oder Maschinen, zum Strassenbau oder zur Landesverteidigung, ihrerseits wieder zusammenschliessen werden, und wie auf diese Weise ein unendlich dichtes, auf das mannigfaltigste verflochtenes Netz freier Verbände bestehen und alle Aufgaben des Staates weit vollkommener als dieser erfüllen wird.

Nach Kropotkin wird die Entwicklung mit dem Staat auch das Privateigentum beseitigen und zwar ganz allgemein, nicht etwa nur an den Produktionsmitteln. Allenthalben sieht er die Völker unter dem Privateigentum leiden, in den unausgesetzt auf einander folgenden Wirtschaftskrisen, dem dauernden Elend der Massen erblickt er nur dessen Wirkungen, und er zweifelt nicht, dass die Menschen bald diese überlebte Form der Güterverteilung von sich werfen werden. Zugleich aber bemerkt er allenthalben einen kommunistischen Zug, in den öffentlichen Kunstsammlungen, Bibliotheken und Schulen und in zahlreichen anderen unentgeltlichen Einrichtungen, und so nimmt er an, dass die neue Gesellschaft nicht nur kollektivistisch, sondern kommunistisch sein wird, und dass in ihr wie die Mittel der Gütererzeugung so auch die blossen Gegenstände des Verbrauchs nicht dem Einzelnen gehören werden, sondern den freien Gemeinschaften, die sie dem Einzelnen nach Bedarf zur Verfügung stellen. Er malt uns aus, wie gern alsdann jeder im Dienste der Gemeinschaft arbeiten und wie leicht man sich über die Erzeugnisse der Arbeit einigen wird.

Der neue Zustand wird auch nach Kropotkin durch eine soziale Revolution eintreten. Er sieht eine Revolutionsperiode von mehreren Jahren voraus, die die Gesellschafts- und Güterverhältnisse umgestalten, das Bestehende gewaltsam zerstören und das Neue an seine Stelle setzen wird. Diese Revolution wird zwar von selbst kommen, aber Aufgabe der fortgeschrittenen Geister ist es doch, sie vorzubereiten und zu beschleunigen. Das geeignetste Mittel zu diesem Zwecke erblickt er in der „Propaganda der Tat“, d. h. in Handlungen, die zugleich dem Widerspruch gegen das Bestehende Ausdruck geben, die Aufmerksamkeit auf die neuen Ideen lenken und den Geist der Empörung wecken. Eine Tat macht nach ihm mehr Propaganda, als tausend Broschüren.

Von allen Vertretern des Anarchismus hat Kropotkin bei weitem die meisten Anhänger gefunden. Sein unbezwingbarer Glaube, seine rastlose und opferwillige Propaganda haben erst den Anarchismus zu einer grossen Bewegung gemacht. Eine Weiterentwicklung der anarchistischen Gedanken hat nach ihm nicht mehr stattgefunden. Die Entwicklungslinie, die von Proudhon über Bakunin zu ihm hinführt, schliesst mit ihm ab.

4. Tolstoj.

Ganz abseits von dieser Entwicklung stehen die anarchistischen Gedanken, die der russische Dichter Lew Nikolajewitsch Tolstoj (1828–1911) in zahlreichen Schriften niedergelegt hat, vor allem in den Werken Worin besteht mein Glaube? (1884) und Das Reich Gottes ist in Euch (1893). Dem materialistischen Anarchismus Bakunins und Kropotkins tritt hier ein christlicher, ihrem revolutionären Anarchismus sozusagen ein reaktionärer gegenüber. Wir werden wieder zu den Gedankengängen der ersten Anarchisten, Godwins und Stirners, zurückgeführt. Ohne sie zu kennen, hat Tolstoj ihre Ideen, freilich weit vollkommener, neu hervorgebracht und mit unvergleichlicher Darstellungskraft vorgetragen.

Tolstoj erblickt das höchste Gesetz für alles menschliche Verhalten in der Lehre Christi und zwar in dem Gebot der Liebe, aus dem er als wichtigste Folgerung den Grundsatz ableitet, unter keinen Umständen dem Übel mit Gewalt zu widerstreben. Der Staat verstösst nach ihm gegen diesen Grundsatz und damit gegen die Lehre Christi. Die Herrschaft in ihm beruht auf Gewalt, auf der Polizei und dem Heere. Sie bedeutet, dass die schlechten Menschen die guten unterdrücken, denn nur schlechte Menschen streben nach Macht, und der Besitz der Macht verdirbt auch die

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/195&oldid=- (Version vom 25.7.2021)