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guten. Deshalb muss der Staat beseitigt werden. An seine Stelle soll aber nicht etwa ein Zusammenleben auf Grund von Verträgen gesetzt werden: jeder Vertrag verstösst wider die Lehre Christi, denn niemand weiss, ob ihm nicht in dem Augenblick, in dem er einen Vertrag zu erfüllen hat, das Gebot der Liebe etwas ganz anderes gebieten wird. Sondern es braucht nur jeder Mensch dem Gebot der Liebe zu folgen, dann wird sich von selbst ein geordnetes und befriedigendes Zusammenleben ergeben.

Wie der Staat so ist nach Tolstoj auch das Eigentum der Lehre Christi zuwider. Es ist eine Herrschaft der Besitzenden über die Nichtbesitzenden auf der Grundlage der Gewalt: ohne Polizei und Heer wäre es keinen Augenblick aufrecht zu erhalten. Es zerspaltet die Menschheit in zwei Kasten, eine arbeitende, bedrückte und eine müssige, bedrückende. An seine Stelle muss nach Tolstoj eine Güterverteilung treten, die sich einzig auf das Gebot der Liebe gründet. Jeder Mensch soll, statt Arbeit von anderen zu verlangen, vielmehr selbst sein ganzes Leben der Arbeit für andere widmen, so werden alle haben, was sie bedürfen.

Der neue Zustand, den Tolstoj als „das Reich Gottes“ bezeichnet, soll nicht durch Gewalt herbeigeführt werden, sondern dadurch, dass alle Menschen ihr Leben nach dem Gebot der Liebe und dem Grundsatz des Nichtwiderstrebens einrichten. Man soll keine Gewalt mehr gebrauchen oder in Anspruch nehmen, auf sein Eigentum verzichten und seine Bedürfnisse durch eigene Arbeit befriedigen. Man soll ferner den unchristlichen Forderungen der Staatsgewalt den Gehorsam versagen, namentlich die Zahlung der Steuern und den Dienst im Heere verweigern. Wenn nur diejenigen, die die Wahrheit erkannt haben, damit den Anfang machen, so werden alsbald die Massen folgen und Staat und Eigentum zu Falle kommen.

Die Gedanken Tolstojs haben sich eine Anzahl von begeisterten Anhängern gewonnen. Wirklichen Einfluss haben sie nicht zu erlangen vermocht. Sie sind zu sehr vom Leben abgewandt, als dass irgend eine Richtung sie sich zum Banner hätte erwählen mögen.

5. Richtungen und Entwicklungen im Anarchismus.

Alle anarchistischen Lehren haben eins miteinander gemeinsam, das uns in den primitiven Gedanken Godwins und Stirners, in den ausgearbeiteten Zukunftsbildern Proudhons, Bakunins und Kropotkins und in den apokalyptischen Gesichten Tolstojs in gleicher Weise entgegentritt: sie sprechen dem Staat die Daseinsberechtigung ab und gründen die Gesellschaft der Zukunft auf ein anderes einigendes Prinzip. Dieser Grundgedanke des Anarchismus ist bereits bei Godwin in voller Klarheit vorhanden, und keiner der Folgenden bis herab zu Kropotkin und Tolstoj hat ihn auf irgend eine Weise verlassen.

Aber freilich, jener Grundgedanke ist unbestimmt genug. Sobald man den Versuch unternahm, ihm bestimmtere Gestalt zu geben, musste sich notwendig eine grosse Verschiedenheit der Meinungen ergeben. Die Geschichte des Anarchismus zeigt uns eine starke Entwicklung, an deren Endpunkt wir uns nur mühsam deutlich machen, dass alle ihre Stufen doch schliesslich nichts anderes sind als Ausgestaltungen der an ihrem Beginn aufgestellten Idee.

Dies tritt schon bei der philosophischen Grundlegung hervor. Der Anarchismus Godwins, Stirners und Proudhons ist ein ideologischer Anarchismus, er hat eine ethische (oder bei Stirner vielmehr antiethische) Grundlage. Bei Bakunin und Kropotkin wird dann der Anarchismus mit einem Male naturwissenschaftlich, er fordert nicht mehr die Abschaffung des Staates, sondern sagt seinen Untergang voraus. Tolstojs Anarchismus nimmt dann wieder mit Entschiedenheit die alte ethische Grundlegung auf.

Eine ebenso entschiedene Entwicklung sehen wir bei der Frage nach dem einigenden Prinzip der Zukunft, also nach dem, was der ideologische Anarchismus an die Stelle des Staates setzen will, und wovon der naturwissenschaftliche erwartet, dass es von selbst an seine Stelle treten werde. Der Anarchismus Godwins und Stirners glaubt die künftige Gesellschaft ohne irgendwelche Vereinbarungen begründen zu können und meint, ein menschliches Zusammenleben sei möglich, wenn jeder Einzelne nur das Wohl der Gesamtheit oder (nach Stirner) seinen eigenen

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 176. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/196&oldid=- (Version vom 25.7.2021)