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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Und andererseits wird die Staatsform und die Kulturentwicklung des Staates für seine Politik von höchster Bedeutung sein. Es liegt auf der Hand, dass die auf der Grundlage der Volkssouveränität ruhende Republik die breiten Massen des Volkes in viel stärkerem Masse in die Bahnen der Politik hereinzieht, als die absolute Monarchie. Es ist ebenso zweifellos, dass je umfassender die Zwecke des Staates auf höheren Kulturstufen werden, umso grösser auch der Kreis derer wird, die an einem dieser Zwecke und damit am Staate selbst einen unmittelbaren Anteil nehmen.

Immer und überall aber wird es nicht wenige Staatsangehörige geben, die den Dingen des Staates gleichgültig gegenüberstehen und keine Staatsform und keine Kulturentwicklung wird imstande sein, diesen toten Punkt zu überwinden. Aus der Zahl dieser Gleichgültigen werden dann bei kluger und tatkräftiger Agitation leicht jene viel beklagten „Mitläufer“ gewonnen werden, die an sich ein Verständnis der Politik nicht haben und die doch so häufig die schwere und folgenreiche Entscheidung in der Politik geben, besonders bei Wahlen. Je stärker das öffentliche Leben an dieser Unwahrheit krankt, desto schwieriger, ja selbst gefahrvoller wird die Arbeit derer werden, die die Verantwortung für den Gang der Politik und des Gemeinwesens tragen. Und in diesem Punkte vor allem liegt auch die Berechtigung des Zweifels an der Wahrheit des heute so vielfach als zweifellose politische Wahrheit gepriesenen allgemeinen Wahlrechtes, ganz ebenso wie bei der Utopia des Thomas Morus.

Darum ist es eine der obersten Aufgaben im modernen hochentwickelten Kulturstaat, die Fähigkeit zum Verständnis der Politik in immer weitere Kreise des Volkes zu tragen. Je bedeutender die Stellung eines Staates in der Gemeinschaft der Staaten geworden ist, desto mehr sind die verantwortlichen Leiter der Politik des Staates angewiesen auf verständnisvolle Teilnahme und Unterstützung der Bürger des Staates. Nur auf dieser Grundlage kann die Kraft des Staates zur vollen Geltung kommen: dies war das Grundaxiom des grossen Reichsfreiherrn vom Stein bei seiner Wiederaufrichtung des preussischen Staates. Dieser Arbeit ist in Deutschland bis jetzt noch nicht die genügende Aufmerksamkeit zugewendet worden. Was in dieser Hinsicht geschehen ist, ist von Seiten der politischen Parteien geschehen. Bei diesen aber ist die Arbeit eine durch bestimmte von vornherein festgestellte Gesichtspunkte gebundene. Dies kann nicht genügen, vielmehr bedarf es hierfür einer breiteren Grundlage, für die gewissermassen die Diagonale aus allen Parteiprogrammen zu ziehen das Bestreben sein muss. Nur in Zeiten grosser nationaler Erregung hat bis jetzt in Deutschland diese breite Grundlage eines starken einheitlichen nationalen Bewusstseins gewonnen werden können. Hier wirksam einzugreifen ist die Aufgabe der „Allgemeinen Bürgerkunde“ in der zu schaffenden allgemeinen, nicht Fachinteressen dienenden, obligatorischen Fortbildungsschule.

Eine ausgezeichnete Vorschule der Politik bietet unter allen Umständen der Dienst in der Selbstverwaltung, der insbesondere in Preussen seit der Kreis- und Provinzialordnung auf dem Grund der Steinschen Städteordnung einen überaus grossen Umfang angenommen hat. Davon wird besonders zu handeln sein.


3. Die Grundlage für die Wissenschaft der Politik bildet die Geschichte. Jedes Volk schafft sich im Laufe der Geschichte seine besondere, aus den verschiedensten Gesichtspunkten zusammengesetzte politische Grundlage. Auch durch die grössten Staatsveränderungen kann doch diese aus dem Wesen des Volkes hervorgegangene Grundlage des Staatslebens keine Veränderung erfahren. Alle Veränderungen sind hier nur Entwicklungen, sei es im ausdehnenden, sei es im einschränkenden Sinne. Die Geschichte bildet somit die oberste Grundlage der Politik. Man kann wohl in gewisser Weise den alten Satz des monarchischen Staatsrechtes: „Der König stirbt nicht“ auch auf die Völker anwenden: Die Völker sterben nicht und der Grundsatz ihres Wesens bleibt der gleiche. In diesem Sinne ist die deutsche Geschichte zweifellos eine Einheit der deutschen Volks- und Staatsentwicklung. Aber die Politik wird sich hier vor dem schweren Fehler hüten müssen, abgestorbene Kräfte als weiterwirkend anzusehen; seit dem westfälischen Frieden war diejenige politische Gesamtkraft des deutschen Volkslebens, die ihre staatliche Form im alten Reiche gefunden hatte, vollkommen erschöpft; das Scheinleben des alten Reiches von 1648−1806 entbehrte in Wirklichkeit der politischen Grundlage einer deutschen Gesamtkraft; an ihre Stelle tritt zunächst in den Formen des rein brandenburgisch-preussischen Partikularismus eine neue politische Kraft, die nach der unablässigen

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/22&oldid=- (Version vom 1.8.2018)