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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

war, trat die Wahl auf Zeit durch die Stadtverordneten, als deren Exekutivausschuss der neue Magistrat erscheint. Er „soll überall nur aus Mitgliedern der Bürgerschaft bestehen, die das Vertrauen derselben geniessen.“ (§ 141). In der Hauptsache sollten seine Mitglieder im Ehrenamte stehen. Stein entschloss sich ungern, auf den ehrenamtlichen Bürgermeister zu verzichten; und die St. O. sucht die Zahl der Berufsbeamten im Magistrat nach Möglichkeit zu beschränken. Das Berufsbeamtentum war das wichtigste Element im Entwicklungsgang des fürstlichen Obrigkeitsstaates gewesen; dieser hatte das alte Ehrenamt der ständischen Gesellschaft ausgerottet. Jetzt lebte es als bürgerliches Ehrenamt in verjüngter Gestalt wieder auf. Denn nur auf dem Boden eines freien genossenschaftlichen Lebens ist die ehrenamtliche Tätigkeit denkbar; und an einem solchen fehlte es durchaus innerhalb der obrigkeitlichen Beamtenregierung. Diese Beamten waren und konnten nur sein die berufsmässigen Diener des politisch allein berechtigten fürstlichen Herrn, in dessen Lohn und Brot sie standen. Indem die St. O. die genossenschaftliche Struktur des bürgerlichen Gemeinwesens wieder belebte, schuf sie auch wieder Raum für die Tätigkeit von Bürgern im Ehrenamt als Organe dieses Gemeinwesens, nicht als gemietete Diener eines fürstlichen Herrn. Diesen neuen Charakter aber teilten mit den Ehrenämtern nun die städtischen Berufsämter; auch ihre Träger sind nicht mehr missi dominici, beauftragte Diener einer transcendenten Obrigkeit, sondern Organe des Gemeinwesens, in dessen Rechten ihre amtliche Zuständigkeit wurzelt. Ja, diese Umgestaltung wirkt hinüber auf das Staatsbeamtentum; wenn die regenerierte Bureaukratie nach der Reformära trotz der Fortdauer des Absolutismus doch nicht mehr völlig der des ancien regime gleicht, so ist dies eine Wirkung des Geistes, aus dem die St. O. erwuchs. Für diesen Ideennexus ist es bezeichnend, dass die mit der St. O. fast gleichzeitige Verordnung v. 26. Dez. 1808 die Vorgesetzten anweist, „das Dienstverhältnis gegen ihre Untergebenen nicht zu einem Mietskontrakt und öffentliche Beamte nicht zu Mietlingen herabzuwürdigen“. Auch hier wird also im Prinzip schon der Bruch mit dem fürstlichen Dienertum des Obrigkeitsstaates vollzogen und ein Gedanke ausgesprochen, den erst der Verfassungsstaat vollenden kann.

Für die Kompetenzabgrenzung zwischen Staat und Stadt enthielt die St. O. gar keine positiven und nur eine negative Bestimmung. Abgesehen von der Gerichtsbarkeit, die den Städten gleichzeitig durch ein anderes Gesetz genommen wurde, schloss die St. O. die Ortspolizei von der Zuständigkeit der städtischen Selbstverwaltung, aber nicht von ihrer Zahlungspflicht aus. Sie beging damit ihren einzigen, überaus verhängnisvollen Prinzipfehler (vgl. unten). Im übrigen unterstellte sie zwar die kommunale Tätigkeit der staatlichen Aufsicht; gab dieser aber durch genaue gesetzliche Umschreibung eine feste Rechtsform.

Qualitativ war der mit der St. O. vollzogene Fortschritt überaus bedeutungsvoll; aber im Rahmen des grossen Steinschen Planes einer fundamentalen Staatsreform, die das obrigkeitliche Beamtenregiment durch die Selbstverwaltung in den Verfassungsstaat überführen wollte, war quantitativ ihre Wirksamkeit doch nur recht beschränkt. Das damalige Preussen war ganz überwiegend Agrarstaat, das städtische Element an Zahl und an wirtschaftlicher wie politischer Bedeutung keineswegs ausschlaggebend. Die notwendige Voraussetzung für eine Höherführung der Selbstverwaltungsorganisation war also eine Verbreiterung ihrer Grundlage durch die Ausdehnung auf das agrarische Land. Die Vorbedingung dafür wiederum war die Neuordnung der gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse. Sie ward von der Hardenbergschen Gesetzgebung in Angriff genommen. Da jedoch die Beamtenregierung hierbei auf den energischen Widerstand der alten sozialen Herrenschicht stiess, ohne die tatkräftige Unterstützung der übrigen Volksklassen zu erhalten, konnte der Erfolg nur unzulänglich sein. Ja, der bisher schon hier so mächtig überwiegende Grossgrundbesitz wurde noch gewaltig verstärkt, indem die Rittergüter für die Aufhebung feudaler Gerechtsame durch Zuschlagung von Bauernland entschädigt wurden. Die Aufgabe, diese Grossgüter mit den meist kleinen und leistungsschwachen Dörfern in den Rahmen einer modernen Organisation kommunaler Selbstverwaltung einzufügen, war tatsächlich unlösbar. Demgemäss blieb die feudal-patrimoniale Organisationsform bestehen: die Patrimonialobrigkeit der Rittergüter über die Landgemeinden.

Zu diesem scharfen Gegensatz zwischen Stadt und Land der ostelbischen Provinzen trat nach dem Wiener Kongress in dem vergrössert wiederhergestellten Staate der nicht minder scharfe

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 202. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/222&oldid=- (Version vom 26.7.2021)