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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Gegensatz von Ost und West. Hier im Westen war jener Gegensatz von Stadt und Land, der im Osten der wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Struktur der Bevölkerung das charakteristische Gepräge gab, erheblich abgemildert, im Rheinland vielfach fast ausgeglichen. Und im Gegensatz zum Osten mit seinem ländlichen Grossgrundbesitz und Zwerggemeindetum herrschte im Westen ländlicher Kleinbesitz und Grossgemeindetum, so dass die Reste des Grossgrundbesitzes sich leicht in die kommunale Organisation der grossen Gemeinden einfügten, die überdies noch zu Samtgemeinden verbunden waren.

Die von Hardenberg erwirkte Verordnung v. 22. Mai 1815 „über die zu bildende Repräsentation des Volkes“ hatte noch den Steinschen Reformgedanken bewahrt, die Staatsverfassung organisch auf der kommunalen Selbstverwaltung in Gemeinde, Kreis und Provinz aufzubauen. Demgemäss liess der Staatskanzler durch eine Immediatkommission die Entwürfe einer Städte- und Landgemeinde-Ordnung sowie einer Kreisordnung für den ganzen Staat ausarbeiten, mit dem Ziele: „die Grundsätze der St. O. v. 1808 auf alle Kommunen auszudehnen, um mit der grösseren Selbständigkeit, welche hiernach den Gemeinden zuteil wird, auch eine rege Teilnahme für ihre gemeinschaftlichen Angelegenheiten unter allen ihren Gliedern zu erwecken, und auf einer in diesem Sinne gebildeten Gemeindeeinrichtung die Grundlagen der künftigen Verfassung zu erbauen“. Eine wirklich gemeinsame Grundlage der kommunalen Organisation des östlichen und westlichen Landes vermochten diese Entwürfe freilich nicht herzustellen, da sie an die ländlichen Verhältnisse des Ostens, insonderheit an die kommunale Immunität der Rittergüter nicht rühren durften. Daher versuchte man schon damals den Ausweg, die auf der untersten Stufe, der Ortsgemeinde, zunächst unmögliche Ausgleichung auf der nächst höheren Stufe, bei den Kreisen, zu gewinnen. Dazu bedurfte es jedoch auch einer gründlichen Umgestaltung der östlichen Kreistage, die wiederum aus den Rittergutsbesitzern als Kreisständen, mit dem von ihnen präsentierten Landrat an der Spitze, bestanden; denn dies hier allein herrschende ritterschaftliche Element fehlte im Westen fast völlig. Aber auch dieser Versuch, an der Eigenart „Alt-Preussens“ und seiner „echt teutschen ständischen Gliederung“ etwas zu ändern, stiess in der Zeit der Karlsbader Beschlüsse auf unüberwindlichen Widerstand; die Hardenbergschen Entwürfe wurden vom König abgelehnt. Damit war sowohl der Ausbau der kommunalen Selbstverwaltung wie eine organische Entwickelung zur repräsentativen Staatsverfassung unterbunden. Die durch Gesetz v. 23. Juni 1823 eingeleitete provinzial- und kreisständische Gesetzgebung liess das Virilstimmrecht der Rittergutsbesitzer auf den Kreistagen bestehen und basierte Kreis- wie Provinzialstandschaft auf den Grundbesitz in ständischer Gliederung. Die St. O. v. 1808 blieb völlig isoliert im absolutistischen Beamtenstaat und gegenüber jenen feudalen Kreis- und Provinzialständen stehen; die Prinzipien ihrer Selbstverwaltung wurden weder auf die Landgemeinden noch auf höhere Kommunalverbände ausgedehnt; auch nicht auf die Städte der neuen Provinzen. Vielmehr erging für die grösseren Städte der Provinz Posen, die westelbischen Teile der Provinz Sachsen, für die Provinz Westfalen und für 3 rheinische Städte die revidierte St. O. v. 1831. Sie war in den äusseren Formen der Organisation dem Grundgesetz städtischer Selbstverwaltung ziemlich genau nachgebildet; aber von ihrem Geiste urteilte treffend Wilhelm v. Humboldt, „dass dem Beaufsichtigen der Staatsbehörden sehr viel zugestanden worden sei, und dass in dem ganzen Entwurf die Absicht, den Städten die zur Erwerbung allgemeiner Teilnahme an dem Gesamtwohl notwendige Selbständigkeit zu geben, sich nicht so lebendig als in der alten St. O. ausspricht“. Dies trifft namentlich das Verhältniss zwischen Magistrat und Stadtverordneten und die Staatsaufsicht. In erster Beziehung verschiebt die revidierte St. O. den Schwerpunkt scheinbar zugunsten des Magistrats, in Wahrheit zugunsten der Staatsbureaukratie ; denn diese entscheidet endgültig in allen Konfliktsfällen zwischen beiden städtischen Kollegien; und die Wahrscheinlichkeit solcher Konflikte ist durch die unklare und komplizierte Abgrenzung der Zuständigkeit sehr gesteigert. Wie anders als in der ersten St. O. klingt hier die Legaldefinition von der Stellung des Magistrats: „Jeder Stadt soll als deren Obrigkeit ein Magistrat vorgesetzt sein, welcher in einer doppelten Beziehung steht : a) als Verwalter der Gemeindeangelegenheiten; b) als Organ der Staatsgewalt“! Die Betonung seines Charakters als „Obrigkeit“ betont zugleich die Subordinierung des Magistrats unter die eigentliche Obrigkeit: die Beamtenregierung. Und dem entspricht es durchaus, dass an die Stelle der präzisen gesetzlichen Umschreibung der Staatsaufsicht in der ersten

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/223&oldid=- (Version vom 26.7.2021)