Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/224

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

St. O. hier als Inhalt dieser Aufsicht die Kautschukbestimmung erscheint: „dafür zu sorgen, dass die Verwaltung fortwährend in dem vorgeschriebenen Gange bleibe und angezeigte Störungen beseitigt werden“. Das ist in Wirklichkeit keine Aufsicht über kommunale Selbstverwaltung, sondern die Leitung einer subordinierten Verwaltung durch die vorgesetzte Staatsbehörde. Während im Geltungsbereich der ersten St. O. ihre Hineinzwängung in den Rahmen der obrigkeitlichen Beamtenregierung durch zahlreiche „Deklarationen“ in recht mühseliger Einzelarbeit geschehen musste, ist die revidierte St. O. v. 1831 der reine Ausdruck dieses zwieschlächtigen Systems. Und für die Fortdauer dieses Systems ist es bezeichnend, dass die Bestimmungen jenes längst nicht mehr geltenden Gesetzes noch heute mit Vorliebe zur „Deklaration“ des geltenden Städterechts herangezogen werden.

In Westfalen trat neben die revid. St. O. eine Landgemeinde-O. v. 1841; die Rheinprovinz erhielt eine für Stadt- und Landgemeinden geltende Gem. O. v. 1845, die sich an die dort bestehenden, von der französischen Organisation beeinflussten Zustände anlehnte. In dem früher schwedischen Teil Pommerns liess man die besondern Statuten und Recesse für die einzelnen Städte bestehen. Und auch auf dem flachen Lande der östlichen Provinzen galt nach wie vor die Ordnung des preussischen Landrechts mit der Patrimonialgewalt der Rittergüter über die Landgemeinden.

Der grosse Reformgedanke, eine Repräsentativverfassung aus dem organischen Aufbau der Selbstverwaltungskörper herauswachsen zu lassen, war also gescheitert. Die Bewegung von 1848 setzte vielmehr auch hier die konstitutionellen Formen der Verfassung neben die bureaukratische Verwaltungsorganisation der Beamtenregierung. Trotzdem verkannte die siegreiche konstitutionelle Bewegung keineswegs, dass das national selfgovernment parlamentarischen Verfassungslebens den soliden Unterbau des local selfgovernment kommunaler Selbstverwaltung nicht entbehren könne. Das erste deutsche Parlament hatte in seine „Grundrechte des deutschen Volkes“ und damit in die erstrebte Reichsverfassung auch Normativbestimmungen für die Gemeindeverfassungen aufgenommen, indem es mit scharfem politischen Blick die wichtigsten Hemmnisse beseitigen wollte, die bisher einer kräftigen Entwicklung des kommunalen Lebens in den deutschen Einzelstaaten entgegenstanden. Auch beim Erlass der preussischen Verfassung v. 31. Jan. 1850 war diese Anschauung noch wirksam, wenn auch in erheblicher Abschwächung, indem der Art. 105 die Ausdehnung der Selbstverwaltungsorganisation nicht nur auf alle Ortsgemeinden, sondern auch auf die höheren Kommunalverbände: Kreis, Bezirk und Provinz vorschrieb. Die nähere Ausgestaltung war besondern Gesetzen vorbehalten. Sie kamen auch als eines der ersten Werke der neuen konstitutionellen Gesetzgebung sehr rasch zustande; am 11. März 1850 erging eine neue Gemeinde-O. für städtische und ländliche Gemeinden des ganzen Staates, eine Kreis-, Bezirks- und Provinzial-O. und ein Gesetz über die Polizeiverwaltung.

Das Ziel dieser Gesetzgebung konnte kein anderes sein, als die Lücke auszufüllen, die durch das Verlassen des Stein-Hardenbergschen Reformplans entstanden war; ihr Inhalt musste daher den einstigen Hardenbergschen Entwürfen wesensverwandt sein. Wie damals war es auch jetzt die Aufgabe, die organisatorischen Gegensätze der städtischen und ländlichen Kommunalverfassung und damit zugleich die des östlichen und westlichen Staatsteiles auszugleichen. Dem entsprach die Gemeinde-O., indem sie zwar für kleine Gemeinden eine Vereinfachung der Organisation zuliess, im übrigen aber Stadt- und Landgemeinden des ganzen Staates gleich behandelte. Sie führte als Grundlage des Bürgerrechts das Prinzip der Einwohnergemeinde durch; schloss sich aber in vielen Punkten an die Bestimmungen der revidierten St. O. v. 1831 an. Insofern brachte sie den Städten im Geltungsbereich der Steinschen St. O. eher einen Rückschritt ihrer kommunalen Autonomie. Dafür dehnte sie diese auf alle Ortsgemeinden aus unter Beseitigung der gutsherrlichen Obrigkeit, insonderheit ihrer Patrimonialpolizei über die Landgemeinden. Damit stand weiter im Zusammenhang die Uebertragung der wichtigsten Aufsichtsbefugnisse von der reinen Staatsbureaukratie auf die Organe der durch die gleichzeitige Kreis-, Bezirks- und Provinzial-O. konstituierten höheren Selbstverwaltungskörper. Denn diese Gesetze beseitigten auch die feudalen Kreis- und Provinzialstände, indem sie aus den Wahlen der Gemeindevertretungen die Kreisversammlungen nach dem Masstabe der Bevölkerung hervorgehen liessen; ebenso aus den Wahlen der

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/224&oldid=- (Version vom 26.7.2021)