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Kreisvertretungen die Provinzialversammlung. Gerade die Verwandtschaft dieser Gesetzgebung mit den Grundgedanken der alten Reformpläne bereitete ihr bei der raschen Erstarkung der Reaktion sehr schnell das gleiche Schicksal, das dieselben Kräfte der Stein-Hardenbergschen Reform bereitet hatten. Die Gemeinde-O. kam allenfalls im Westen und in einigen grösseren Städten des Ostens zur Ausführung d. h. da, wo sie an den bestehenden Einrichtungen kaum etwas verbesserte. Wo sie jedoch wirklich Neues schaffen sollte, auf dem flachen Land der östlichen Provinzen, vermochten die alten Mächte jeden Anfang der Ausführung zu verhindern; damit war auch die Ausführung der Kreis-, Bezirks- und Provinzial-O. unmöglich gemacht. Am 24. Mai 1853 wurden alle diese Gesetze nebst Art. 105 der V. aufgehoben, die alten Kreis- und Provinzialstände wiederhergestellt. Die unmittelbare Folge war die Ersetzung der verfassungsgemässen I. Kammer durch das Herrenhaus. Für die Landesteile, die vorher kommunale Verfassungen besessen hatten, lebten sie in ihrer alten Buntscheckigkeit wieder auf. Die Städte der östl. Provinzen (ausser Neuvorpommern und Rügen, wo es bei den einzelnen Stadtrezessen blieb), erhielten die St. O. v. 30. Mai 1853, die sich an die aufgehobene Gemeinde-O. v. 1850 anlehnt. Ihr ähnlich ist die westfälische St. O. v. 19. März 1856, neben die gleichzeitig eine Landgemeinde-O. trat, die in der Hauptsache die früheren Einrichtungen wiederherstellte. Die rheinische Gemeinde-O. v. 1845 wurde wieder in Kraft gesetzt, aber nur für die Landgemeinden, während die Bestimmungen für die Städte abgetrennt wurden als rheinische St. O. v. 15. Mai 1856. Alle diese Gesetze gelten heute noch, nachdem die Novelle zur rheinischen Gemeinde-O. bei dem etwas plötzlichen Schluss der Landtags-Session 1911 unter den Tisch geraten ist.

Auf dem flachen Lande der östl. Provinzen aber wurden durch zwei Gesetze v. 14. April 1856 in der Hauptsache die Rechtszustände des preussischen Landrechts, insonderheit die patrimoniale Polizeiobrigkeit des Gutsherrn über die Landgemeinde restauriert.

Mit dieser Organisation, „halb noch Rohbau und halb schon Ruine“, trat Preussen an die Spitze des neuen Reichs. Von den 1866 annektierten Ländern behielten Hannover, Hessen und Nassau ihre bisherigen Gemeindegesetze, Frankfurt a. M. erhielt 1867, Schleswig-Holstein 1869 eine neue St. O., die einige von dem älteren Typus abweichende Bestimmungen enthält, in denen man Konzessionen an die liberalisierende Politik sehen mochte. Nach jahrelangen Kämpfen mit der feudalen Opposition, namentlich des Herrenhauses, kam dann die Kreisordnung v. 13. Dez. 1872 zustande, mit der man den Grundstein zu einer Reform der ganzen inneren Verwaltung zu legen glaubte. Das Prinzip dieser Reform hatten die Motive zum ersten Entwurf der Kr. O. also verkündet: „Der Entwurf soll, indem er für die Selbstverwaltung die Basis schafft, die Reform der inneren Verwaltung überhaupt einleiten“. Es war im Kern immer wieder der Leitgedanke des Stein-Hardenbergschen Planes, der mit immanenter Notwendigkeit bis zu seiner endlichen Verwirklichung wiederkehren muss, weil es keine andere Möglichkeit einer einheitlichen Organisation gibt.

War der Sinn des neuen Reformversuches notwendig der gleiche wie der seiner Vorgänger, so stiess er gleich ihnen auf die alten Hindernisse: den Gegensatz zwischen West und Ost, der wieder in der „Eigenart“ der ostelbischen Landzustände wurzelte. Statt diese Hemmungen zu überwinden, suchte die Reform sie zu umgehen, indem die Kr. O. nicht einheitlich für den ganzen Staat, sondern nur für die östlichen Provinzen (ausser Posen) erlassen wurde; und indem man auch hier das heisse Eisen der Beziehungen zwischen Rittergut und Landgemeinde möglichst wenig berührte. Damit entfiel aber ein tragfähiger kommunaler Unterbau der Kreisverfassung. Von den 25 000 Landgemeinden der östlichen Provinzen hatten kaum 10% mehr als 500 Einwohner; daneben standen etwa 16 000 selbständige Rittergüter mit fast 2 Millionen Einwohnern. Die einfache Eingemeindung dieser ungeheuerlichen Latifundien in jene Kleingemeinden war tatsächlich undurchführbar. So lange solche Hypertrophie des Grossgrundbesitzes besteht, gibt es für die kommunale Organisation nur den Notbehelf, grosse Samtgemeinden zu bilden, die für die Inkommunalisierung des Grossgrundbesitzes genügenden Raum bieten. Das war zugleich der einzige Weg zu einer Annäherung der östlichen und westlichen Organisation. An diesem Kardinalpunkt schieden sich nun aber die Geister; was die einen erstrebten, wollten die andern gerade verhindern. Um die Kr. O. überhaupt zustande zu bringen, einigte man sich schliesslich auf das Kompromiss kleinere Gemeinden und Gutsbezirke zu Amtsbezirken zu verbinden. Die einen erwarteten davon die Entwicklung zu

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 205. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/225&oldid=- (Version vom 26.7.2021)