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kommunalen Samtgemeinden, die andern die Verhinderung solcher Entwicklung. Die letzteren haben recht behalten; die kommunale Funktion der Amtsbezirke ist völlig verkümmert; sie sind lediglich ländliche Ortspolizeibezirke geblieben. Denn soweit musste die Kr. O. allerdings in das Verhältnis von Rittergut und Landgemeinde eingreifen, dass sie endlich die 1807 beabsichtigte Aufhebung der gutsherrlichen Patrimonialpolizei aussprach, wie auch die des Erb- oder Lehnschulzenamts, an dessen Stelle der gewählte Gemeindevorsteher trat. Da man aber keine genügend starken Landgemeinden schuf, tat man gerade das, was bei den Beratungen von allen Seiten prinzipiell verworfen worden war, indem man auch hier wieder die Ortspolizei von der Kommunalorganisation losriss und sie dem vom Oberpräsidenten zu ernennenden Amtsvorsteher überwies. Tatsächlich blieb damit in vielen Fällen die alte Patrimonialpolizei unter anderer Firma bestehen; denn sehr häufig erscheint immer noch der Rittergutsbesitzer in der Eigenschaft des Amtsvorstehers als Polizeiherr über die Landgemeinden.

Bei dieser Sachlage war es weiter unmöglich, die Kreisvertretung einheitlich aus den Gemeindevertretungen hervorgehen zu lassen; vielmehr wurde der Kreistag im Anschluss an die „gegebene Gliederung“ in Städte, Landgemeinden und selbständigen Grossgrundbesitz in Gestalt der 3 Wahlverbände gebildet. Allerdings wurde für die Zugehörigkeit zum ersten Kreisstand nicht an der „historischen Eigenschaft als Rittergut“ festgehalten; sondern massgebend ist ein Census an Grund- und Gebäudesteuer; auch treten die ländlichen Gewerbetreibenden der höchsten Gewerbesteuerklasse hinzu. Während die ländlichen Kreistagssitze je zur Hälfte auf diesen ersten Wahlverband und den der Landgemeinden verteilt werden, geschieht die Verteilung zwischen Stadt und Land ohne Rücksicht auf die Steuerleistung nach dem Verhältnis der Einwohnerzahlen; jedoch mit der Beschränkung, dass die Städte keinesfalls mehr als die Hälfte, wenn nur eine Stadt zum Kreise gehört, höchstens ein Drittel der Abgeordneten stellen. Das mächtig aufstrebende städtische Element ist also kraft Gesetzes zur ewigen Minorität innerhalb der Kreisverfassung verurteilt, die sich damit von vornherein in prinzipiellen Gegensatz zur natürlichen Entwicklung unsrer Zeit gesetzt hat. Freilich haben die Städte von mehr als 25 000 E. die Möglichkeit, aus dem Kreise auszuscheiden und selbständige Stadtkreise zu bilden. Soweit diese Möglichkeit Wirklichkeit wird, was meist recht schwierig ist, prägt sich natürlich der antiurbane Charakter des zurückbleibenden Landkreises noch schärfer aus, so dass er auch für die kleineren Städte keinen geeigneten Platz bietet. Daran ändert die halb anerkannte, halb wieder verkümmerte Sonderstellung der kreisangehörigen Städte von mehr als 10 000 E. gar nichts. Ueberhaupt versagt ja unsere historisch-verwaltungsrechtliche Grenzziehung zwischen Stadt- und Landgemeinde völlig gegenüber der modernen Entwicklung, vor allem in Industriegegenden und in der Umgebung der Grosstädte; sie ermöglicht die Existenz von „Städten“ mit 500–600 E. neben „Landgemeinden“ mit 50–60 000 E. Letztere hält man künstlich im „Stande der Landgemeinden“ zurück, weil sie als Städte doch ihr Ausscheiden aus dem Kreise schliesslich durchsetzen könnten. Sie und die kreisangehörigen Städte sollen durch ihre Steuerkraft der Leistungsschwäche der Kleingemeinden und Gutsbezirke aufhelfen. Andererseits sind sie an den Leistungen der Kreisgemeinde weit weniger interessiert, weil sie als Grossgemeinden die wichtigsten kommunalen Aufgaben zunächst allein zu erfüllen haben. Daneben aber müssen sie weiter durch die Kreisorganisation einen grossen Teil der Kosten für die kommunalen Funktionen aufbringen, denen die Kleingemeinden und Gutsbezirke nicht gewachsen sind. Bei alledem bilden ihre Vertreter auf den Kreistagen die geborene Minorität.

Schliesst schon diese Gestaltung des Repräsentativorgans der Kreisgemeinde ein wirkliches kommunales Leben aus, so gilt dies nicht minder von den beiden anderen obersten Organen. Der vom Kreistag gewählte Kreisausschuss ist natürlich ein Mikrokosmos seines Wahlkollegiums. Und der Leiter der ganzen Kreisverwaltung, der von Amts wegen den Vorsitz im Kreistag und Kreisausschuss führt, der Landrat, ist mit der Kreisgemeinde nur durch eine rechtlich unmassgebliche Vorschlagsbefugnis des Kreistags verbunden. Er ist „ad nutum amovibler“ politischer Beamter, steht also in schärfstem Subordinationsverhältnis zu den vorgesetzten Staatsbehörden, mithin in prinzipiellem Gegensatz zur Selbständigkeit eines Selbstverwaltungsorgans. Auf der anderen Seite erscheint freilich bei ihm auch die prinzipielle Unabhängigkeit der reinen Staatsbeamten von

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 206. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/226&oldid=- (Version vom 27.7.2021)