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St. O. Ein solcher Entwurf wurde auch 1876 von der Regierung eingebracht, um „die unerlässliche weitgreifende Umgestaltung mittels eines völlig neuen, die gesamte städtische Verfassung einheitlich und übersichtlich regelnden Gesetzes herbeizuführen“, wie es in den Motiven heisst. Nicht nur die Einordnung in das neue, von der Kreisverfassung beherrschte Behördensystem sollte dadurch für die Städte erträglicher gestaltet, sondern auch der als unhaltbar anerkannte Zustand der Geltung von etwa 20 verschiedenen Städte- und Landgemeinde-Ordnungen mit vielfach veralteten Bestimmungen beseitigt werden. Der Entwurf scheiterte jedoch am Widerstande des Herrenhauses; und damit haben sich alle jene Uebelstände bis heute unverändert erhalten.

Doch auch für das Prinzip der ganzen Reformgesetzgebung war die Konstruktion jener Behörden von verhängnisvollster Bedeutung. Der ursprüngliche Grundgedanke dieser Reform war der einer Dezentralisation der Staatsverwaltung durch Selbstverwaltung gewesen, das notwendig immer wiederkehrende Steinsche Leitmotiv. Dazu war die Organisation der höheren Kommunalkörper, Kreis und Provinz, notwendige Voraussetzung; aber sie schuf doch nur die Formen, die ihren Inhalt erst durch die Uebertragung der bisher vom Staatszentrum bureaukratisch geleiteten inneren Landesverwaltung an die kommunalen Selbstverwaltungskörper erhalten sollten. Demgemäss erwartete man auch noch bei Verabschiedung der Kr. O. ganz allgemein von dem Fortgange der Reform die Aufhebung des alten Hauptsitzes bureaukratischer Landesverwaltung, der Bezirksregierungen, und die Aufteilung ihrer Zuständigkeit zwischen Kreis und Provinz. Mit der Prov. O. trat jedoch eine bedeutsame Schwenkung ein. Die bureaukratische Bezirksinstanz wurde konsolidiert; und ausser einigen Spezialangelegenheiten, die den Provinzialgemeinden zugewiesen wurden, fand keine Dezentralisation durch kommunale Selbstverwaltung statt; vielmehr wurden jene neuen, aus Berufs- und Ehrenbeamten gemischten Staatsbehörden gebildet, die man seitdem ebenso hartnäckig wie falsch als „Selbstverwaltungsorgane“ bezeichnet. Dass man den Widersinn dieser Bezeichnung jemals übersehen konnte, das erklärt sich aus der lange herrschenden und noch heute nicht ganz ausgestorbenen, falschen Identifizierung der Verwaltung durch Ehrenämter mit dem Begriff der Selbstverwaltung. Weil in jenen Kollegien auch Ehrenbeamte sitzen, verfiel man in den Wahn, Behörden als Selbstverwaltungsorgane gelten zu lassen, die unter der Leitung der eigentlichen Träger der Staatsbureaukratie stehen! Jene Identifizierung ergab sich aus der Doktrin von dem Gegensatz zwischen „wirtschaftlicher“ und „obrigkeitlicher“ Selbstverwaltung und diese Doktrin beruhte wiederum auf der Irrlehre, dass Kommunalverwaltung ihrer Natur nach nur wirtschaftliche Verwaltung sei, während alle „obrigkeitliche“ Verwaltung begrifflich „staatlich“ sei. Diese Dogmatik war ein altes Erbstück des doktrinären Liberalismus und, gestützt durch die wissenschaftliche und politische Autorität Gneists, noch so wirksam, dass sich der damals einflussreiche Liberalismus auf die abschüssige Bahn dieser fälschlich s. g. „Selbstverwaltungsorganisation“ drängen liess. Allerdings forderte er programmatisch „eine Reform der staatlichen Obrigkeitsverwaltung im Sinne der Selbstverwaltung“ und daneben, wie man es gern ausdrückte, „eine Verbindung der kommunalen Wirtschafts- mit der staatlichen Obrigkeitsverwaltung“. Aber worin sollte das Wesen jener „obrigkeitlichen Selbstverwaltung“ im Unterschiede von sonstiger staatlicher Verwaltung denn bestehen, da man die Kommunalisierung der „obrigkeitlichen“ Funktionen als Widerspruch zum „wirtschaftlichen“ Charakter der Kommunalverwaltung ansah? Da blieb freilich kein anderer Anhaltspunkt als der Unterschied von besoldetem Berufs- und unbesoldetem Ehrenamt. So entstand das Dogma: obrigkeitliche Selbstverwaltung ist die Verwaltung von Staatsämtern durch unbesoldete Ehrenbeamte! Also ist der vom Oberpräsidenten ernannte, dem Landrat subordinierte ländliche Polizeiverwalter, der Amtsvorsteher: Organ der Selbstverwaltung; und sogar die Verbindung mit der „wirtschaftlichen Kommunalverwaltung“ ist durch die Vorschlagsliste des Kreistages erfreulich hergestellt. Aber das gilt nur, falls sich ein unbesoldeter Ehrenbeamter für den Posten findet; andernfalls kann der Oberpräsident auch einen besoldeten Beamten hinsetzen; – und sofort hört dasselbe Amt auf, Organ der Selbstverwaltung zu sein! Nach derselben Formel ist dann freilich der Provinzialrat zu 5/7, der Bezirksausschuss zu 4/7 Selbstverwaltungsorgan; und die Verbindung mit der „wirtschaftlichen Kommunalverwaltung“ ist hier sogar durch Wahl der Selbstverwaltungs-Siebentel seitens des Prov.-Ausschusses hergestellt. Aber ist es eine mögliche Vorstellung, dass ein und dieselbe Behörde zu einem gewissen Bruchteil

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 208. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/228&oldid=- (Version vom 27.7.2021)