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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Arbeit von 2 Jahrhunderten zur deutschen Gesamtkraft in der Form des neuen deutschen Reiches wurde. Mit der Zeit vor 1648 hat diese neue Zeit und die sie beherrschenden Kräfte wenig Gemeinsames; es waren in staatlicher Beziehung in Wahrheit völlig neue Kräfte, die die neue Zeit und das neue Reich schufen. Dennoch darf der Zusammenhang mit der alten Zeit nicht verkannt und nicht gering geschätzt werden: Er liegt in der grossen Kulturgemeinschaft zwischen den verschiedenen Perioden der deutschen Staatsentwicklung, insbesondere in dem Umstande, dass die Kolonisationen (Askanier in Brandenburg, deutscher Orden), aus denen der Staat des deutschen Ostens erwuchs, durch deutsche Kräfte aus den deutschen Gebieten alter Kultur, insbesondere des Westens und Südens, durchgeführt wurden; Kreuz, Schwert und Pflug machten die ehedem slavischen Länder jenseits der Elbe deutsch und schufen seit dem frühen Mittelalter ein neues Deutschland, das dann nach dem westfälischen Frieden der Träger der deutschen Staatsentwicklung geworden ist, freilich nicht in dem vollen territorialen Umfange jener deutschen Kolonisation, von welcher erhebliche Teile wieder verloren gingen, indes andererseits nichtdeutsche Bestandteile dieser Staatsentwicklung leider aus Gründen der Staatssicherheit eingefügt werden mussten. Das Jahr 1866 hat dann weiterhin ein grosses deutsches Kulturgebiet von der deutschen Staatsentwicklung abgetrennt und den politischen Zusammenhang mit diesem Gebiete auf einen internationalen, allerdings besonders gearteten, Charakter eingeschränkt. Die deutsche Kultureinheit in Sprache, Wissenschaft, Kunst, Literatur hat lange und in grosser Stärke bereits bestanden, als politisch noch völlige Zersplitterung in Deutschland herrschte.


4. So sehr aber die Geschichte als Grundlage der Politik festgehalten werden muss, so ist die Politik selbst im letzten Ende doch keine Wissenschaft, sondern eine durch wissenschaftliche Lehre bestimmte Kunst: Die Kunst, im öffentlichen Leben das Mögliche auszurichten. Je kleiner das Staatswesen nach Umfang, Bevölkerungsziffer und Aufgaben, desto einfacher werden sich diese Dinge gestalten, je grösser das Staatswesen, desto schwieriger wird die Aufgabe; je einfacher die Staatsform, desto leichter werden die politischen Entschliessungen und Entscheidungen herbeizuführen sein, je vielgestaltiger die Organe des Staates, desto mehr Schwierigkeit muss es notwendigerweise bieten, zu demjenigen Punkte zu gelangen, der eine bindende Feststellung des Staatswillens darstellt. In diesem Sinne hat der grösste Meister deutscher Politik in der Neuzeit, Fürst Bismarck, oft genug hervorgehoben, dass die Politik im konstitutionellen Staate aus Kompromissen bestehe; nur weltfremde Doktrinäre werden dies leugnen können.

Die Kunst des Möglichen wird bestimmt durch Erwägungen geographischer, wirtschaftlicher, sozialer Natur. Andere Erfordernisse stellen an den Staat die Gebirgsländer als die Tiefländer, andere die landwirtschaftlichen Gegenden als die Industriebezirke, andere das platte Land als die Städte, andere wieder die Binnenstädte als die grossen Seehandelsplätze. Ins unendliche liessen sich diese Verschiedenheiten politischer Anforderungen, die sich aus den tatsächlichen Verschiedenheiten ergeben, weiterführen. Der Staat aber hat die Aufgabe, als Wächter des Gesamtinteresses diese Verschiedenheiten, die sich oft genug zu den schärfsten Gegensätzen steigern, abzuwägen und auf Grund dieser Erwägungen die Mittellinie zu suchen und in der Gesetzgebung zur Geltung zu bringen. Als der grosse unparteiische Regulator des gesamten Wirtschaftslebens seines Volkes muss der Staat seine ganze Kraft in den Dienst des Gedankens stellen: auf dieser Mittellinie die wirtschaftliche, ja überhaupt die gesamte Gesetzgebung aufzubauen. Selbstverständlich kann diese Mittellinie keine rein theoretische Konstruktion sein, sondern wird bedingt sein durch Erwägungen der tatsächlichen Erfahrungen und insbesondere durch den Wert, den die einzelnen Momente, die bei der Abwägung in Betracht kommen, für den Gesamtcharakter des Staates und dessen Stellung in der Gesamtheit der Staatenwelt haben − lauter Erwägungen, die grosse staatsmännische Kraft auf der Grundlage historischer, volkswirtschaftlicher, völkerrechtlicher Kenntnisse bedingen. Regeln allgemeiner Natur lassen sich für die Politik als Staatskunst gar nicht aufstellen; in jedem einzelnen Falle werden die oben gekennzeichneten Erwägungen Platz zu greifen haben und von der richtigen Entscheidung werden Wohl und Wehe des Staates in seiner weiteren Entwicklung abhängen. Insbesondere wird es eine besonders wichtige und wohl auch besonders schwierige Aufgabe einer vorsichtigen und weitblickenden Staatskunst sein, um eines grossen Erfolges willen in kleineren

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/23&oldid=- (Version vom 1.8.2018)