Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/231

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

ineinander greifenden Zweige ihrer Tätigkeit, vor allem auch ihr finanzieller Bedarf und seine Deckung willkürlich auseinander gerissen werden. Immerhin könnte dieser vorläufige Notbehelf hingenommen werden als ein Übergangsstadium, das schliesslich zu der einzig erspriesslichen Lösung, der Eingemeindung mit kommunaler Dezentralisation führen soll. Aber die Anlage dieser Organisation eröffnet für solche Entwicklung keine günstigen Aussichten. Das Gebiet des Verbandes, das zwei weit hingestreckte Landkreise einschliesst, entspricht in keiner Weise der natürlichen Gestalt eines Gemeindegebiets. Seine Kompetenz ist höchst fragmentarisch und ganz unzulänglich für die wichtigsten Gemeininteressen. Und seine Organe: Verbandsversammlung, Verbandsausschuss und Verbandsdirektor haben eine so bedenkliche Ähnlichkeit mit den Organen der Provinzialgemeinde, dass die Absicht durchscheint, eher den einst mit Recht verworfenen Plan einer Provinz Berlin wieder aufzunehmen, als die Grundlage einer Grossgemeinde Berlin zu schaffen. Damit wäre aber die hier gestellte Aufgabe völlig verkannt und verfehlt. Aufgabe der Provinzialgemeinde ist es, die Tätigkeit ihrer Glieder, der Kreisgemeinden, zu ergänzen, soweit deren Kräfte für gewisse kommunale Funktionen nicht ausreichen. Darum handelt es sich hier jedoch gar nicht; vielmehr um eine so enge wirtschaftliche, soziale und örtliche Durchdringung verschiedener Gemeinden, dass ihre kommunale Tätigkeit bei getrennter, unzusammenhängender kommunaler Organisation durch ständige Reibung gehemmt wird. Da bedarf es der Lösung der Gegensätze durch die Organisation einer grossen Ortsgemeinde, deren Gebiet durch die örtliche, soziale und wirtschaftliche Einheit bestimmt wird, mit einer Dezentralisation, die den Partikulargemeinden die innerhalb der Gemeinschaft ohne hemmende Reibung mögliche Selbständigkeit lässt. Wie wenig der „Verband“ in seiner jetzigen Gestalt die Gegensätze durch eine höhere Einheit organisch löst, das zeigt sich deutlich darin, dass er sie immer wieder mechanisch durch den Machtspruch einer Beschlussbehörde durchhauen muss. Diese Behörde ist ein potenzierter Bezirksausschuss, und so wenig wie dieser ein Selbstverwaltungsorgan. Für eine gesunde Entwicklung unseres grössten Selbstverwaltungskörpers bleibt nur die Hoffnung, dass sich schliesslich die Logik der Tatsachen wieder einmal stärker erweisen mag als die der Menschen.

Im Verlaufe eines Jahrhunderts hat die preussische Selbstverwaltungsgesetzgebung den grossen Plan Steins nicht zu verwirklichen vermocht. Der Dualismus zwischen obrigkeitlicher Beamtenregierung und selfgovernment, der im Staate nicht gelöst ist, ist es auch nicht gegenüber der Gemeinde. Eben deshalb bleibt die ganze Verwaltungsorganisation dauernd reformbedürftig. Aber die gegenwärtig wieder in Angriff genommene „Verwaltungsreform“ wird an die eigentliche Wurzel des Übels nicht rühren; und so bleibt diese Organisation, wie seit einem Jahrhundert, „halb noch Rohbau und halb schon Ruine“.

3. Die Entwicklung der Selbstverwaltungsgesetzgebung in den anderen deutschen Staaten.

Die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung in Preussen hat für die ganze deutsche Entwicklung nicht bloss die Bedeutung einer partikularen Erscheinung neben so und so vielen andern. Und zwar geht sie weit darüber hinaus, keineswegs nur quantitativ im Verhältniss der Grösse dieses Einzelstaates zu der aller andern; auch nicht bloss in Folge seines natürlichen Einflusses auf die Gestaltung in den kleineren, namentlich in den norddeutschen Staaten. Vielmehr treten alle Probleme dieses Gegenstandes auch qualitativ hier vollständiger und schärfer hervor, als in der Entwicklung aller übrigen Einzelstaaten zusammen. Der für das politische und kommunale Leben ganz Deutschlands so wichtige Gegensatz zwischen West und Ost geht mitten durch das preussische Staatsgebiet. Und der andere gemein deutsche Gegensatz zwischen obrigkeitlichem Beamtenregiment und genossenschaftlichem selfgovernment ist in Preussen am schärfsten herausgearbeitet, weil hier einerseits der Obrigkeitstaat am rücksichtslosesten verwirklicht wurde, und andererseits das entgegengesetzte Prinzip im grossen Reformplan Steins am reinsten postuliert wurde. So kann die preussische ziemlich als Paradigma der deutschen Entwicklung für die Prinzipienfragen gelten; und die Betrachtung darf sich für die übrigen Einzelstaaten auf eine gedrängte Übersicht der Hauptzüge beschränken.

Wie in Preussen selbst nach Wiederherstellung des Staates einer Ausdehnung des Geltungsbereichs der Steinschen St. O. sich übermächtige Hindernisse in den Weg stellten, so fand in den

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/231&oldid=- (Version vom 27.7.2021)