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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

anderen norddeutschen Staaten zunächst das Vorbild jener Reform kaum irgend eine Nachahmung. Vielmehr stellte man in der Restaurationszeit nach Möglichkeit die alten Gemeindeverhältnisse wieder her. Erst unter der Nachwirkung der Julirevolution von 1830 vollzog sich in den norddeutschen Kleinstaaten vielfach im Zusammenhang mit der konstitutionellen Bewegung der Übergang zu einer modernen Organisation der kommunalen Selbstverwaltung. Eine Sonderstellung nehmen die freien Städte ein, bei denen Staatsverfassung und Stadtverfassung im wesentlichen zusammenfallen; und andererseits die Grossherzogtümer Mecklenburg, die sich solcher Modernisierung bisher entzogen haben. Dagegen ging im Königreich Sachsen die politische Bewegung gerade von der Unzufriedenheit mit dem veralteten städtischen Ratsregiment aus und führte, wie zur konstitutionellen V. v. 1831, so zur St. O. v. 1832. Auf diese wie auf andere kleinstaatliche Gemeindegesetze übte neben dem preussischen auch schon das süddeutsche Muster einen gewissen Einfluss aus; jedoch wurde die verschiedene Behandlung von Stadt- und Landgemeinden im Norden durchweg festgehalten.

Fast gleichzeitig mit der Steinschen St.-O. war in Bayern das Edikt vom 24. September 1808 über das Gemeindewesen ergangen, das die Nachahmung der napoleonischen Einrichtungen in den Rheinbundstaaten auch auf dem Gebiet der Munizipalverfassung treulich wiederspiegelt. In den kleineren süddeutschen Staaten wurde dieses System auch noch einige Zeit nach dem Sturz der Fremdherrschaft beibehalten; dagegen vollzog sich in den beiden süddeutschen Königreichen in Zusammenhang mit der Einführung konstitutioneller Staatsverfassungen auch der Übergang zur kommunalen Selbstverwaltung. Das bayrische Edikt von 1818 über die Verfassung und Verwaltung der Gemeinden trennt die Organisation der Städte und grösseren „Märkte“ von der der „Ruralgemeinden“, und folgt in vielen Punkten dem Steinschen Vorbild in der Absicht, „in den Städten und Märkten die Magisträte mit einem freieren und erweiterten Wirkungskreise wiederherzustellen“. Auch das kommunale Zweikammersystem - „bürgerlicher Magistrat“ und „Gemeinde-Ausschuss“ – wie die Verbindung von Ehren- und Berufsamt wird herübergenommen. Schärfer tritt die süddeutsche Eigenart in dem württembergischen Edikt von 1822 für die Gemeinden, Oberämter und Stiftungen hervor. Die Organisation ist im wesentlichen für alle Gemeinden eine einheitliche, nur mit etlichen Vereinfachungen für die Gemeinden bis zu 5000 E. Die Gemeindekollegien – Gemeinderat und Bürgerausschuss – werden beide direkt von der Bürgerschaft gewählt; auch ist ihre Beratung m der Regel eine gemeinsame. Eine dieser württembergischen vielfach ähnliche Gemeindeverfassung erging 1831 in Baden, wie überhaupt die dreissiger Jahre auch in Süddeutschland manche Fortbildung des Kommunalrechts brachten.

Alle diese Gemeindegesetze bleiben in der Grösse und Weite ihrer leitenden Gesichtspunkte, ihrer politischen Triebkraft hinter dem Steinschen Vorbild weit zurück; mögen auch manche von ihnen in technischen Einzelheiten zweckmässigere Bestimmungen enthalten. In den Kleinstaaten stellt ja auch die Zentralgewalt den örtlichen Verhältnissen allzu nahe, als dass sich die politische Bedeutung der Differenzierung von kommunaler und staatlicher Organisation so fühlbar machen könnte wie im Grossstaate. So schiebt sich dort die wirtschaftliche Seite in den Vordergrund. Treffend hat schon Brater sein Urteil über jene Gemeindegesetze also zusammengefasst: „Als Kern des Gemeindelebens fassen sie noch die Vermögensverwaltung auf und nehmen auf die höheren Zwecke, welchen das Gemeindevermögen als Hilfsmittel dienen soll, in ihren Anordnungen wenig Bedacht. Von den zwei Elementen der Gemeindefreiheit wird eines, die Autonomie, noch kaum erkannt, das andere, die Selbstverwaltung, durch eine überwuchernde Staatskuratel verkümmert. Zudem sind die Vorschriften über Organisation der Gemeindeobrigkeit darauf berechnet, dass die wichtigsten Sitze von bureaukratisch geschulten Männern eingenommen werden, und so eine Gemeindebureaukratie von innen heraus der von aussen herein regierenden Staatsbureaukratie die Hand reicht.“

Die Bewegung von 1848 und die in den Frankfurter Grundrechten gegebenen Richtlinien für die Befreiung der Gemeinden als der Grundlagen des freien Staates brachten auch die Gemeindegesetzgebung der kleineren Staaten in lebhaften Fluss. Jedoch trat auch hier der Rückschlag sehr bald ein, der diesen Gesetzen meist ein ähnliches Schicksal bereitete wie den preussischen Kommunalordnungen vom 11. März 1850. Erst seit der Ära der Reichsgründung setzt hier eine neue Tätigkeit

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 212. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/232&oldid=- (Version vom 27.7.2021)