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durch die Notwendigkeit einer Übereinstimmung zweier Kollegien zu jedem Gemeindebeschlusse, also durch ein kommunales Zweikammersystem. Dagegen steht bei dem andern Typus ein einziges kollegiales Organ an der Spitze der Stadtgemeinde, da der Bürgermeister von Amtswegen Vorsitzender der Stadtvertretung ist. Das erste System überwiegt in Deutschland weitaus; die Bürgermeisterei-Verfassung besteht nur in der preussischen Rheinprovinz, der bairischen Pfalz, im Grossherzogtum Hessen, Elsass-Lothringen und mehreren sächsisch-thüringischen Staaten. Im kommunalen Zweikammersystem ist die gesonderte Beratung und Beschlussfassung der beiden Kollegien meist die Regel, nur dass der Magistrat in den Sitzungen der Stadtverordneten vertreten ist und gehört werden muss. Umgekehrt bildet nach der Hannoverschen und Schleswig-Holsteinschen St. O. gemeinschaftliche Beratung und Beschlussfassung die Regel; jedoch wird die Mehrheit innerhalb eines jeden Kollegiums festgestellt; ähnlich in Baden, Württemberg, fakultativ auch im Königreich Sachsen u. a.

Die Frage, ob Rats- oder Bürgermeisterei-Verfassung den Vorzug verdiene, ist eins der meist umstrittenen Probleme kommunaler Organisation. Früher überwog wohl die Meinung, dass der anspruchsvollere Apparat des kommunalen Zweikammersystems nur für grössere Städte geeignet sei, während Kleinstädte sich bei dem andern, der Landgemeinde-Verfassung ähnlichen Typus bescheiden sollten; demgemäss sieht auch die altländische preussische St. O. eine solche Vereinfachung der Organisation für die kleinsten Städte (bis 2500 E.) vor. Neuerdings macht sich jedoch umgekehrt die Erwägung geltend, dass gerade die grössten Städte infolge der natürlichen Schwerfälligkeit des bei der Ratsverfassung gehäuften Kollegialsystems den rasch wechselnden Anforderungen ihres kommunalen Lebens kaum zu folgen vermögen; und dass gerade ihnen die rasche Schlagkraft, die Beweglichkeit und klare Verantwortlichkeit der Bürgermeistereiverfassung dringend nottue. In der Tat erstickt die frische Initiative bei einem Geschäftsgang, der jede wichtigere Angelegenheit durch mindestens ein halbes Dutzend verschiedener Kollegialinstanzen schleppt; denn zu Magistrat und Stadtverordneten treten noch die betreffenden Verwaltungsdeputationen, und regelmässig auch vorberatende Ausschüsse aller dieser Kollegien. Stimmen die Beschlüsse der verschiedenen Instanzen nicht in allen Punkten überein, so wiederholt sich die umständliche Prozedur. Die Leitung der ganzen Verwaltung und jedes einzelnen Zweiges durch Mehrheitsbeschlüsse von Kollegien schaltet das Moment einer persönlichen Verantwortlichkeit gegenüber der Bürgerschaft und ihrer Vertretung wie auch vor der Öffentlichkeit in bedenklicher Weise aus. Ferner schwillt die Zahl der Magistratsmitglieder in den grössten Städten als Folge ihrer sich häufenden Arbeitslast und doch sehr zum Schaden der Erledigung dieser Arbeit an. Nachdem von Anfang die leitenden juristischen und sonstigen Techniker als Berufsbeamte in den Rat gekommen sind, muss sich ihre Zahl in dem Masse vermehren, wie sich die kommunale Tätigkeit ausdehnt. Wenn der juristische Fachmann wie der des Schulwesens, des höheren und niedern, des Hoch- und Tiefbaues im Magistrat sitzt, so gehört auch der Techniker des Medizinalwesens, des Verkehrswesens und mancher andrer Verwaltungszweige hinein. Von der Möglichkeit, Berufsbeamte als Ressortchefs ausserhalb des Magistrats, also unter ihn zu stellen, kann desshalb kein genügender Gebrauch gemacht werden, weil solche Stellung für die Person wie für den Verwaltungszweig als untergeordnet im Vergleich zur Mitgliedschaft im Magistrat erscheint. Auch sind die Stadtverordneten regelmässig einer solchen Massregel wenig geneigt, weil sie auf die Anstellung dieser Beamten ohne entscheidenden Einfluss sind, der vielmehr beim Magistrat liegt, während sie die Magistratsmitglieder wählen. Wahl und Wiederwahl sind aber gerade im Kollegialsystem fast das einzige Mittel, eine persönliche Verantwortlichkeit geltend zu machen. In dem Masse, wie demnach die Zahl der Berufsbeamten im Magistrat anwächst, muss nun weiter auch die Zahl der ehrenamtlichen Mitglieder steigen, wenn dieses Element, das ursprünglich als ausschlaggebend gedacht war, nicht zur Bedeutungslosigkeit herabgedrückt werden soll, womit dann ein Lebensnerv bürgerlicher Selbstverwaltung durchschnitten wäre. Mit alledem ergeben sich jedoch unförmlich grosse Magistratskollegien, deren Beratungen und oft vom Zufall abhängige Mehrheitsbeschlüsse den Gang der Verwaltung unerträglich hemmen und die Zeit der mit laufender Arbeit belasteten Mitglieder meist unfruchtbar vergeuden.

Zu erheblichem Teil fallen diese Missstände bei der Bürgermeisterei-Verfassung fort; aber sie erzeugt dafür andere. Gewiss ist die Verantwortlichkeit für die Leitung der ganzen Verwaltung eine weit klarere, wenn die Vertretung der Bürgerschaft nicht ein anonymes Kollegium, sondern

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/235&oldid=- (Version vom 28.7.2021)