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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

er gesetzlich bestimmte Aufsichtsbefugnisse über sie; aber weil die kommunale Selbstverwaltung von dem Zentrum eines andern Gemeinwillens geleitet wird als die Staatsverwaltung, sind ihre Organe den staatlichen Verwaltungsbehörden nicht subordiniert.

Das in der Tradition wurzelnde Übel wird erhalten und verstärkt durch den völligen Mangel an klarer Folgerichtigkeit bei der Auseinandersetzung zwischen staatlicher und kommunaler Zuständigkeit. Sobald man die Unbaltbarkeit des Dogmas vom Staate als dem „obrigkeitlichen“ und der Gemeinde als dem „wirtschaftlichen“ Verbande erfasst hat, kann man aus dem Wesen beider für ihre Zuständigkeit nur folgern, dass die Gemeinde der politische Verband zur genossenschaftlichen Ordnung der lokalen Angelegenheiten, der Staat der politische Verband zur genossenschaftlichen Ordnung der nationalen Angelegenheiten sei. Wobei dann freilich der deutsche Territorialstaat in eine recht prekäre Lage kommt, weil er ein lokales Gemeinwesen nicht sein will, weil er aber ein nationales Gemeinwesen nicht ist. Daher jene unlösbaren Schwierigkeiten der deutschen staatsrechtlichen Begriffskonstruktion, von denen oben im 1. Abschnitt die Rede war. Und diese Schwierigkeiten projizieren sich auf die Praxis, weil gerade der Einzelstaat, in dem die Tradition der bureaukratischen Obrigkeit ihren Stammsitz hat, sich mediatisierend zwischen Reich und Gemeinde stellt. Jedenfalls aber lassen sich „lokale Agenden“, die notwendig dem „Staate“ vorbehalten bleiben müssten, aus dem Wesen der Gemeinde im Gegensatz zum „Staate“ unmöglich ableiten. Wenn daher manche positive Gesetzgebung zwischen einem „eignen“ und einem „übertragenen“ Wirkungskreise der Gemeinden unterscheidet, so kann dies nur bedeuten, dass diese Gesetzgebung die zur ersten Kategorie gehörigen Angelegenheiten für solche hält, die nur der Gemeinde zustehen können, die andern dagegen für solche, die entweder dem Staate oder der Gemeinde zustehen können, die sie aber der letzteren zuschreibt. Das ist theoretisch sehr anfechtbar, praktisch aber wenig erheblich, da auch diese „übertragenen“ Angelegenheiten der Gemeinde als Selbstverwaltungskörper zustehen und gleich den „eignen“ im Rahmen der Selbstverwaltung wahrgenommen werden. Denn nicht die Überordnung der Gesetzgebung über die Selbstverwaltung steht in Frage, sondern die Unterordnung der kommunalen unter die staatlichen Verwaltungsbehörden. Gerade dies ist aber die Wirkung des in vielen deutschen Staaten, namentlich in Preussen herrschenden Systems.

Den typischen Fall bildet die Ortspolizei. Wie Verwaltung und Polizei überhaupt, so sind Ortsverwaltung und Ortspolizei weder begrifflich noch praktisch von einander zu lösen; vollends nicht die (der sogenannten Sicherheitspolizei gegenübergestellte) Wohlfahrts- oder besser Verwaltungspolizei. Denn sie ist ja gar nichts andres als die Zwangsseite jedes Verwaltungszweiges; die Schulpolizei von der Schulverwaltung, die Baupolizei von der Bauverwaltung, die Verkehrspolizei von der Verkehrsverwaltung etc. organisatorisch trennen zu wollen, das ist der Gipfel des theoretischen wie des praktischen Widersinns. Aber freilich ist es für den Geist des obrigkeitlichen Poiizeistaates auch der Gipfel der Selbstentäusserung, den Donnerkeil obrigkeitlicher Zwangsgewalt an „Untertanen“-Verbände auszuliefern. Österreich, Württemberg, Baden u. a. haben diesen Schritt getan, indem sie die Ortspolizei als Angelegenheit kommunaler Selbstverwaltung anerkennen. Nicht so Preussen. Nach dem preussischen Grunddogma ist jede Polizeifunktion unveräusserlich und unverjährbar „staatlich“. Da aber der „Staat“ doch nicht an jedem Orte die Ortspolizei durch eigne Beamte verwalten kann, so expropriiert er die Gemeinden, indem er deren Organe, insonderheit Ortsvorsteher und Bürgermeister, zu „staatlichen“ Polizeiverwaltern macht. Polizeiliche Funktionen werden hier also prinzipiell niemals dem Selbstverwaltungskörper zugestanden; vielmehr wird das kommunale Organ auf diesem Gebiet zum subordinierten Staatsbeamten herabgedrückt. Das wirkt jedoch weit über dieses eine Gebiet hinaus. In die ganze Stellung der obersten Kommunalbeamten wird dadurch jene Zwieschlechtigkeit hineingetragen, die der geflissentlichen Vermengung von Aufsicht und Subordination Vorschub leistet. Dass die Ortspolizei doch in Wahrheit Gemeindesache ist, erkennt sogar der preussische Staat wenigstens dadurch an, dass er ihr die Kosten dafür auferlegt. Damit entsteht das Prototyp für jene spezifisch preussische Abart der Selbstverwaltung, die darin besteht, dass der „Staat“ d. h. die bureaukratische Obrigkeit die Angelegenheit – selbst verwaltet, während der Selbstverwaltungskörper die Kosten aufzubringen hat. Da auch das preussische System nicht das Unmögliche möglich machen und wirklich in jedem Verwaltungszweige

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 218. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/238&oldid=- (Version vom 28.7.2021)