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das polizeiliche von den übrigen Elementen scheiden kann, so unterwirft fast überall das polizei-staatliche die kommunalen Elemente seiner Leitung. So wird nach Miquels treffendem Ausdruck „das Sein zum Schein der Selbstverwaltung“.

Was auf dem Polizeigebiet ein falsches Prinzip der Gesetzgebung geleistet hat, das hat namentlich im Schulwesen eine eng verwandte Verwaltungspraxis zu Wege gebracht. Auch hier die gleiche Methode des divide et impera: zwei Begriffe, die sich nicht scheiden lassen, werden angeblich doch geschieden und der eine für unbedingt „staatlich“ erklärt. Das sind hier die „Interna“ im Unterschied von den „Externa“ des Schulwesens. Und auch das Resultat ist das gleiche. Das natürliche Verhältnis: kommunale Selbstverwaltung der von der Gemeinde erhaltenen Schulen nach den staatlichen Gesetzen und unter staatlicher Aufsicht – wird künstlich zerstört; an seine Stelle tritt ein formal ungeheuer komplizierter Zustand mit unwahrscheinlichen Reibungsvorrichtungen zwischen staatlichen und kommunalen Organen; aber mit dem tatsächlichen Ergebnis, dass – nach etlicher unfruchtbarer Kraftvergeudung durch gegenseitige Hemmung – die bureaukratische Obrigkeit die Verwaltung leitet, die kommunalen Organe ihr subordinierte Dienste leisten, und der Selbstverwaltungskörper die Kosten aufbringt!

Ähnlich, wenngleich kaum so klar, liegen die Dinge auf vielen anderen Verwaltungsgebieten. Gewiss ist die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland bei der Ausdehnung ihres Wirkungskreises von der Gesetzgebung wenig behindert; sie kann der modernen Entwicklung gemäss sozialpolitische Aufgaben aller Art, Aufgaben der Wohnungs- und Bodenpolitik, des Verkehrswesens usw. in Angriff nehmen, ohne eines Spezialtitels durch Parlamentsakte zu bedürfen. Aber fast bei jedem Schritt stösst sie auf die übergeordnete Macht bureaukratischer Obrigkeit, die zu genehmigen, zu bestätigen, zu entscheiden, in Wahrheit zu leiten hat; vor allem in Preussen. Wie sind namentlich die Grossstädte in einer ihrer allerwichtigsten Lebensbedingungen, der Ordnung und Entwicklung des Verkehrswesens, durch das staatliche Polizeimonopol und noch obenein durch das preussische Kleinbahn-Gesetz gehemmt, für das sie überhaupt nicht als politische Gemeinwesen, sondern lediglich als „Wegeunterhaltungpflichtige“ existieren!

Im letzten Grunde ruht dies ganze System auf dem Gedanken, dass schliesslich auch für die Qualität der kommunalen Arbeit der „Staat“ verantwortlich sei, und dass dieser „Staat“ durch das obrigkeitliche Beamtentum tätig werde. Damit ist jedoch Sinn und Zweck der ganzen Selbstverwaltungsorganisation in sein Gegenteil verkehrt. Diese beruht vielmehr auf dem Prinzip, dass an die Stelle der verantwortlichen Leitung von oben die Selbständigkeit des engeren Gemeinwesens tritt, deren gesetzliche Grenzen durch die staatliche Kommunalaufsicht zu kontrollieren sind. Für die Qualität seiner inneren Verwaltung muss vor allem durch die Art der gesetzlichen Organisation des Selbstverwaltungskörpers gesorgt werden: durch eine reale Verantwortlichkeit seiner Organe gegenüber dem Gemeinwesen und durch eine Gestaltung der Wahlrechte, die denen, die unter einer schlechten Verwaltung am unmittelbarsten zu leiden haben, die Macht gibt, die Verwaltung ihrer eignen Angelegenheiten zu bessern. Auf der Überzeugung, dass so, trotz aller möglichen Fehlgriffe im einzelnen, die übrigens bei reiner Obrigkeitsverwaltung mindestens ebenso wahrscheinlich sind, das Gemeinwohl des engeren wie des weiteren Verbandes am sichersten und dauerndsten gewahrt werde, beruht die ganze Selbstverwaltung; nur durch ihre rückhaltlose Anerkennung auch in der praktischen Führung der Verwaltung kann sie zur lebendigen Wahrheit werden. Die Voraussetzung dafür ist aber die Durchführung des selfgovernment auch in der staatlichen Struktur unter Überwindung der obrigkeitlichen Rudimente. Die kommunale Selbstverwaltung kann nur im wahren Verfassungsstaat Wahrheit werden.



Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 219. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/239&oldid=- (Version vom 28.7.2021)