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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Dingen nachzugeben: so nahm Bismarck um des grossen volkswirtschaftlichen und staatsrechtlichen Erfolges der Reichsfinanzreform von 1879 willen die sogenannte Frankensteinsche Klausel[1] in Kauf. Und nach gleichen Gesichtspunkten muss m. E. die Finanzreform von 1909 beurteilt werden.


5. Im konstitutionellen Staate aber bietet weitaus die grösste Schwierigkeit für die Politik, für die Staatskunst, die Herstellung einer Mehrheit in der Volksvertretung. Im konstitutionell-monarchischen Staate tritt hierzu noch als entscheidender Punkt das Verhältnis der Volksvertretung zum Monarchen. Wenigstens im deutschen konstitutionell-monarchischen Staate gilt heute noch der Rechtsgrundsatz als zweifellos, dass der Wille des Monarchen die endgültige Entscheidung gibt und dass der Monarch in keinem Falle dem Willen der Volksvertretung rechtlich sich zu beugen verpflichtet ist, ebenso wie andererseits im Rahmen ihrer Zuständigkeit für die Volksvertretung keine Rechtspflicht besteht, in irgend einem Punkte sich dem Willen des Monarchen zu unterwerfen. Auf dieser staatsrechtlichen Grundlage hat sich die Entwicklung zur heutigen Grösse in Preussen-Deutschland vollzogen. In anderen monarchischen Staaten ist dies allerdings, sei es durch die Kraft der Gewohnheit, sei es durch direkte Verfassungsvorschriften anders, indem in gewissen Fällen und unter gewissen Voraussetzungen der Monarch gebunden ist, den Willen der Volksvertretung als massgebend anzuerkennen. In den romanischen, angelsächsischen, skandinavischen Ländern wird dies als Rechtsgrundsatz anerkannt werden müssen; immerhin ist es, soweit es auf Gewohnheit beruht, wie in England, nicht zweifellos. Der wichtigste praktische Fall dieser Art ist der Budgetkonflikt in Preussen von 1862−1866[2]; eine theoretische oder gesetzgeberische Lösung aber hat der Kernpunkt des damaligen Konfliktes auch heute noch nicht gefunden. Von der Persönlichkeit des Herrschers wird in solchen Grundfragen des Staatslebens die Entscheidung in hohem Grade bedingt sein und zwar ebenso, wenn formellrechtlich das deutsch-konstitutionelle, wie wenn das angelsächsisch-parlamentarische System gilt (Wilhelm I. von Preussen, Eduard VII. von England).

Alle wichtigen Entscheidungen der inneren Politik aber werden doch wenigstens in der Regel davon abhängen, dass eine Mehrheit der Volksvertretung hergestellt werden kann. Dies bietet aber oftmals die äussersten Schwierigkeiten. Alle Volksvertretungen sind in Parteien gespalten. Die Parteibildung beruht in verschiedenen Ländern auf sehr verschiedenen Gesichtspunkten. Die aus der Erfahrung der Jahrhunderte erwachsene politische Erziehung der Engländer hat im wesentlichen noch bis heute die Gliederung des Parlaments in zwei grosse politische Parteien aufrecht zu erhalten vermocht. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die politische Kraft der Volksvertretung umso grösser sein wird, je weniger das Parlament in Parteien zersplittert ist und vielleicht darf man soweit gehen, angesichts der englischen Erfahrungen diesen Punkt als Gradmesser der politischen Erziehung einer Nation zu bezeichnen. Die festländischen Parlamente weisen durchweg sehr starke und sehr verschiedenartige Parteizersplitterung auf.

Es stehen sich bei der Parteibildung zwei entscheidende Gesichtspunkte gegenüber. Selbstverständlich werden die Grundsätze einer Partei, die in der Regel in einem Programm niedergelegt werden, die Überzeugung dieser Partei von den für das Staats- und Volkswohl notwendigen Massnahmen ausdrücken. Jede derartige Zusammenstellung von grossen politischen Grundsätzen wird als im besten Glauben und mit bester Kraft formulierte Anweisung zum politischen Handeln mit grösster Achtung angesehen werden müssen: Jedes Parteiprogramm ist der Entwurf einer Staatsverfassung, wie sie die Partei für die beste hält und mit aller Anstrengung praktisch zu verwirklichen strebt.

Dem gegenüber ist in den meisten Verfassungen der Fundamentalgrundsatz niedergelegt: Jeder Volksvertreter ist nicht Abgeordneter einer Partei, sondern Vertreter des ganzen Volkes, und um die ganze Hoheit und Gewalt dieses Grundsatzes zur Geltung zu bringen ist dem der andere Grundsatz in der Regel beigefügt: Die Vertreter des Volkes sind nicht an Aufträge und Instruktionen gebunden, das ist: sie dürfen rechtlich nicht an solche gebunden werden, gemäss ausdrücklicher verfassungsmässiger Vorschrift. Der hohe Idealismus dieses Gedankens aber verflüchtigt sich in der Wirklichkeit der menschlichen Dinge immer und verflüchtigt sich umsomehr, je zahlreicher die Parteien der Volksvertretung sind. Gründe rein politischer Natur, Gründe wirtschaftlicher Interessen, Stammesverschiedenheiten, die bis zu scharfen nationalen Gegensätzen sich steigern, machen oft


Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/24&oldid=- (Version vom 28.9.2016)
  1. Als Franckensteinsche Klausel wird eine Klausel in § 8 des Zollgesetzes von 1879 bezeichnet, der zufolge Zölle und indirekte Steuern, die insgesamt 130 Millionen Mark überstiegen, vom Reich nach Maßgabe der Bevölkerungszahl den einzelnen Bundesstaaten überwiesen und von diesen nötigenfalls als Matrikularbeitrag zurückgefordert werden mussten. Vgl. auch Franckensteinsche Klausel.
  2. Unter dem preußischen Verfassungskonflikt versteht man den Konflikt um eine Heeresreform und die Machtaufteilung zwischen König und Parlament in den Jahren 1859 bis 1866 im Königreich Preußen. Vgl. auch Preußischer Verfassungskonflikt.