Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/246

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Gemeinwesen zu ihren Mitgliedern einerseits und andererseits gegenüber dem Staate ins Auge fasst. Als Urbild des kommunalen Gemeinwesens ist die Gemeinde zu bezeichnen, von ihr ist in erster Linie zu sprechen. Die Gemeinde führt ein Sonderdasein und zugleich ein Dasein für den Staat. Kommunalpolitik im engeren Sinne betrifft aber nur diejenigen Aufgaben, die die Gemeinde für sich erfüllt. Die Aufgaben der Landgemeinde werden dabei notwendig sich in manchen Einzelheiten von den Aufgaben der städtischen Gemeinden unterscheiden. Gemeinschaftlich aber ist ihnen das eine, dass Stadt und Land-Gemeinde als soziale Gebilde sich überall einschieben zwischen den Einzelnen und den Staat, und dass Aufgaben des Gemeinlebens von der Gemeinde übernommen werden.

In allen Kulturstaaten zeigt sich eine fortschreitende Kommunalisierung des Lebens, d. h. in zunehmendem Masse werden Aufgaben übertragen auf das Gemeinwesen, die bisher von den Einzelnen erfüllt wurden, und in zunehmendem Masse werden andere Gemeinwesen durch die Gemeinden von Aufgaben entlastet. Die erste Tatsache hängt aufs engste zusammen mit der Entwicklung der Niederlassungsbedingungen. Je enger sich die Menschen zusammendrängen, je schmaler der Raum wird, auf dem der Einzelne sich betätigen kann, umsomehr ist er angewiesen auf andere, um so zahlreicher werden die Aufgaben, die nicht mehr durch Einzel-, sondern durch Kommunalwirtschaft verwirklicht werden. Und neben die wirtschaftlichen Aufgaben treten die Aufgaben der Fürsorge für die körperliche, geistige und sittliche Entwicklung des Einzelnen. Wo die Wohnungsverhältnisse so beengt sind, dass ein Raum zu gesunder, körperlicher und geistiger Entwicklung der Kinder nicht zur Verfügung steht, wo die Arbeitsverhältnisse so beschaffen sind, dass neben dem Manne die Frau an der erwerbenden Arbeit teilnehmen muss, da kann die Familie die Erziehung der Kinder nicht mehr in genügendem Masse auf sich nehmen. Es ergibt sich um des Gemeinwesens willen die Notwendigkeit, anderweit dafür zu sorgen, und diese Fürsorge fällt ganz von selbst der Gemeinde zu. Ja, auch die geistige und körperliche Pflege der Erwachsenen wird heute vielfach nur auf die Weise noch gefordert werden können, dass die Gemeinde selbst diese Aufgabe in die Hand nimmt, weil sie zu ihrer Erfüllung die Bereitstellung von Mitteln verlangt, die heute der Einzelne, die Familie, in weiten Kreisen des Volkes nicht mehr aufbringen kann. Zugleich ergibt die wirtschaftliche Entwicklung Bedürfnisse, die heute nur noch befriedigt werden können auf einer Grundlage, die weit hinausreicht über den Bezirk der Privatwirtschaft und für die sich privatrechtliche Verbände, wenn überhaupt, so doch häufig nicht unter hinreichender Wahrung der öffentliches Interessen bilden lassen. Die Aufgabe der Versorgung mit Wasser, mit Fleisch, mit Gas, mit Elektrizität wird heute mehr und mehr von den Gemeinden übernommen unter Beiseitedrängung des privaten Kapitals, und die Statistik ergibt, dass diese Kommunalisierung der wirtschaftlichen Betriebe noch lange nicht am Ende der Entwicklung angelangt ist.

Bei der Erfüllung dieser Aufgaben wird die Gemeinde besser befähigt sein als der Staat, das Einzelinteresse in Einklang zu bringen mit den Gemeininteressen und zwar um deswillen, weil der Einzelne der Gemeinde sich stärker verbunden fühlt als dem Staate, weil er in der Gemeinde sich als Mitglied betrachtet, weil er von der Gemeinde das, was er leistet, vor seinen Augen wieder zurückvergütet erhält in Vorteilen, die in dem Gemeinleben erwachsen. Die Unmittelbarkeit des Verhältnisses zwischen dem Einzelnen und der Gemeinde ist es auch, was die Gemeinden befähigt an der Stelle einzutreten, wo in früheren Zeiten die Familie oder die Kirche für den Einzelnen sorgte, heute aber nicht mehr imstande ist, diese Fürsorge zu übernehmen. Des ferneren spricht zu Gunsten der Gemeinde, dass sie besser als der Staat die Beteiligung des Einzelnen an der Befriedigung seiner Bedürfnisse ermöglicht. Die Aufgaben der Erziehung oder die Aufgaben der Befriedigung der wirtschaftlichen Bedürfnisse auf den Staat ganz und gar übertragen, heisst den Einzelnen zum blossen Objekt aller wirtschaftlichen und aller erzieherischen Tätigkeit machen. Innerhalb der Gemeinden aber ist bei richtiger Gemeindeverfassung der Einzelne in der Lage selbst mitzuwirken an der Setzung des Ziels und an der Bereitstellung der Mittel, die zu seiner Erreichung erforderlich sind. In der Gemeinde verwirklicht sich am besten der Gedanke

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/246&oldid=- (Version vom 30.7.2021)