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die Räumlichkeiten dafür herzugeben, sondern auch für eine würdige Benutzung dieser Räume Sorge zu tragen hat.

Während die bisher besprochenen Aufgaben der Gemeindepolitik allen Schichten der Bevölkerung zugute kommen, handelt es sich bei den Aufgaben, die man als solche der Sozialpolitik zu bezeichnen pflegt, um die Ausgleichung derjenigen Nachteile, die einzelnen Klassen der Bevölkerung durch die Entwicklung unserer Wirtschaft und unseres Privatrechts drohen und die im Sinne einer richtigen Gestaltung unseres Gemeinwesens auf Kosten der Gesamtheit gemindert, wenn nicht beseitigt werden müssen. Unter den Klassen, die hier in Betracht kommen, stehen für die Gemeinden wie für den Staat nach wie vor die Arbeiter im Vordergrund. Zwar hat sich die Arbeiterfürsorge der Gemeinde zunächst zu erstrecken auf die eigenen Arbeiter, die in den noch zu besprechenden Gemeindebetrieben angestellt sind, sodann aber auch darüber hinaus auf alle Arbeiter, die in der Gemeinde eine Wohnung haben. Die Arbeiterfürsorge, die die erstere Gruppe betrifft, ergibt sich als eine Pflicht von selbst aus dem Arbeitsverhältnis, und, dass dieses Arbeitsverhältnis von den Gemeinden mit besonderem Ernst aufzufassen ist, ergibt sich wiederum daraus, dass die Gemeinde eine Korporation des öffentlichen Rechts und als solche zum Ausgleich der einander entgegengesetzten Interessen berufen ist. So ist denn der Satz, dass die Gemeindebetriebe Musterbetriebe sein sollten, insbesondere gemünzt auf das Verhältnis der Gemeinde zu ihren Arbeitern. Nur bei weitester Auffassung ihrer eigenen Pflichten wird insbesondere die Gemeinde verlangen können, dass ihre Angestellten nicht rücksichtslos die Möglichkeit, ihre Lebensverhältnisse durch einen Streik zu verbessern, für sich ausnützen. Und sie wird den Gedanken der konstitutionellen Arbeitsorganisation um so mehr aufnehmen dürfen, als ihre eigene Organisation durchaus auf diesem Gedanken aufgebaut ist.

Die Fürsorge für die Arbeiter anderer Betriebe kann eine Notwendigkeit für die Gemeinden sein zunächst unter dem Gesichtspunkt, dass diese Arbeiter mittelbar für die Gemeinden beschäftigt werden, sofern sie bei Unternehmern in Arbeit stehen, die für die Gemeinden Lieferungen besorgen; für diese Arbeiter durch entsprechende Gestaltung der Lieferungsverträge einzutreten, ist Recht und Pflicht der Gemeinde, da diese Rücksichtnahme auf die mittelbar in ihrem Dienst beschäftigten Arbeiter das beste Mittel ist, um zu verhindern, dass durch Streiks oder ähnliche Kampfmassnahmen den Unternehmern die Erfüllung ihrer Verpflichtung unmöglich gemacht wird. Darüber hinaus ist die Beschaffung von Arbeitsgelegenheit eine Gemeindeaufgabe geworden, seit die Gestaltung des Arbeitsmarktes dahin geführt hat, dass immer wiederkehrend eine Ueberfüllung des Marktes Arbeitslosigkeit im Gefolge hat und damit die Stadt zwingt, im Wege der Armenpflege mit ihren Mitteln einzutreten. Die Organisation des Arbeitsnachweises vermag diesem Uebelstande zwar nicht ganz und gar vorzubeugen, aber vermag ihn doch wesentlich zu mildern. Andererseits ist es die Aufgabe der Gemeinde, vorsichtig zu erwägen, inwieweit die Fürsorge für die arbeitslosen Arbeiter anstatt in der Form der Armenpflege gewährt werden kann durch die Beschaffung von Arbeitsgelegenheit und durch die Form einer Versicherung, die der Gewährung von Geldmitteln den Stachel der Armenfürsorge nimmt.

Neben den Arbeitern haben in neuerer Zeit diejenigen Bevölkerungsgruppen, die unter der Bezeichnung des Mittelstandes zusammengefasst werden, mehr und mehr die Fürsorge der Gemeinden für sich in Anspruch genommen, und es ist keine Frage, dass die Gemeinden insbesondere durch die richtige Erziehung und fachliche Ausbildung der Gewerbetreibenden einen grossen Einfluss auf die Gestaltung ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse ausüben kann. Das gewerbliche Fortbildungswesen in allen seinen Schattierungen, dann aber auch die Organisation der Arbeit für die selbständigen Unternehmer, insbesondere durch zweckmässige Gestaltung des Submissionswesens, ist zweifellos geeignet manchen berechtigten Klagen dieser Bevölkerungskreise abzuhelfen. Auf der anderen Seite muss ihrem allzu lauten Hilferuf entgegengehalten werden, dass ihre besondere Aufgabe im wirtschaftlichen Leben gerade in ihrer Selbständigkeit beruht, und sie, wenn sie diese Selbständigkeit durch Einwirkung der Gemeindefürsorge sich verkürzen lassen, damit ihre Existenzberechtigung in Frage stellen.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/250&oldid=- (Version vom 30.7.2021)