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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Mass von Einheit genügt, um eine wirkliche Staats- und Volkseinheit mit der dieser Einheit innewohnenden politischen und wirtschaftlichen Kraft herzustellen.

Geschaffen ist diese Einheit durch Preussen. Sowohl wegen der grösseren Schwierigkeit für die Staatsentwicklung, die in der nur bundesstaatlichen Einigung liegt, als wegen des Verdienstes der Herstellung dieser Einheit hat Preussen in Deutschland − übrigens auch im Anschluss an die Traditionen des alten Reiches, die Österreich diese Stellung gaben − eine Vormachtstellung erhalten, die nicht nur im deutschen Kaisertum der Hohenzollern, sondern auch in der staatsrechtlichen Stellung des Einzelstaates Preussen zum Ausdruck kommt.

Diese Vormachtstellung Preussens ist eine Notwendigkeit für die Erhaltung und Festigung des deutschen Gesamtstaates; würde sie fehlen, wäre die Gefahr des Zerfalles und der Anarchie nahegerückt. Es wird demgemäss bei dieser Vormachtstellung Preussens bewenden müssen und es wird ein wichtiger Faktor im politischen Leben Deutschlands zu bleiben haben, dass das durch Preussen geschaffene Reich nicht nur in formellrechtlicher Beziehung, sondern auch in seiner Lebenskraft bedingt ist von der Lebenskraft des Staates Preussen, die die Voraussetzung bildet für die Lebenskraft des Reiches. Denn die Geschichte beweist doch die Richtigkeit des alten Satzes: dass Staaten erhalten werden durch die Kräfte, die sie geschaffen haben.


7. Die Ziele der Politik erschöpfen sich schon seit Jahrhunderten nicht bloss in nationalen Aufgaben und stärker als je zuvor sind heute die internationalen Gesichtspunkte im Leben der Staaten. Schon beschäftigt man sich nicht etwa nur im Kreise weltfremder Schwärmer, sondern im Kreise ernsthafter Politiker und Staatsmänner mit der Frage des Stillstandes der militärischen Rüstungen, der, wenn erreicht, sicher die Entscheidung auf die Abschaffung dieser militärischen Rüstung nach sich ziehen würde, falls nicht die Gewalt der Tatsachen sehr schnell diesem Zustande der Unwehrhaftigkeit der Staaten ein Ende bereiten würde. Immerhin spielt diese Frage heute noch keine entscheidende Rolle in der Wirklichkeit des Staatslebens, sondern bildet nur den Mittelpunkt einer sehr tatkräftigen und zielbewussten Agitation. In den verschiedenen Ländern des Staatensystems der Kulturwelt findet sie mehr oder minder Anklang in der Volksseele.

Viel wichtiger und praktischer aber ist der andere grosse internationale Gedanke der modernen Staatenwelt geworden: Der Gedanke der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit. In weitem Umfange ist dieser Gedanke bereits verwirklicht und erprobt; eine dauernde Organisation, der Schiedshof im Haag, an dem die gesamte zivilisierte Staatenwelt beteiligt ist, dient dieser Idee. Die Idee der sogenannten obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit, das ist der übernommenen Rechtspflicht der Staaten, sich der Schiedsgerichtsbarkeit zu unterwerfen, ist heute keine Phantasie mehr, sondern hat im raschen Siegeszuge die moderne Staatengesellschaft erobert und wird sicherlich in Kürze ihre Anerkennung durch allgemeinen Staatenvertrag finden.

Rüstungsstillstand und obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit stehen nicht in notwendigem innerem Zusammenhang des Gedankens, aber es liegt auf der Hand, dass die praktische Verwirklichung eines jeden dieser beiden Gedanken sehr fördernd zur Verwirklichung des anderen wirken muss. Je stärker der Gedanke der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit wird, desto seltener wird der Anlass zu Kriegen unter den Völkern werden und damit würde die Notwendigkeit grosser stehender Heere und gewaltiger Kriegsflotten als Mittel zur Erzwingung völkerrechtlicher Ansprüche durch Waffengewalt sicher eine Einschränkung erfahren. Aber als äusserstes Mittel im Staatsleben der Völker wird das Zwangsmittel des Krieges doch nicht entbehrt werden können und es wird im Völkerleben immer Momente geben, wo nur mehr die Entscheidung durch die Waffe möglich ist. Weder die Herstellung des heutigen Königreichs Italien noch die Aufrichtung des heutigen Deutschen Reiches, (auch die Schaffung des besonderen Königreichs Belgien) − um nur einige Beispiele zu bieten − wäre auf friedlichem Wege durch Mittel des „Rechtes“ möglich gewesen; das „Recht“ war für diese Völker zu einer „ewigen Krankheit“ geworden, die sie zur Ohnmacht im Rate und im wirtschaftlichen Wettkampf der Völker verurteilte. Darum musste eine Entscheidung durch die Waffen zur Niederwerfung eines unhaltbar gewordenen „Rechtes“ und Aufrichtung eines der Wahrheit der Dinge entsprechenden neuen Rechtes erfolgen; denn das italienische und das deutsche Volk

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/26&oldid=- (Version vom 1.8.2018)