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des Staates zu den Religionsgesellschaften eng zusammen. Nur durch Scheidung zwischen Staat und Kirche oder Kirchen kann diese Freiheit sich vollenden, ist daher in den meisten Staaten noch in der Entwicklung. Stadien dieser Entwicklung sind durch die Anerkennung der Parität mehrerer Konfessionen in einem Staate oder wenigstens Reiche, und durch das weitergehende Prinzip der Toleranz gegeben. Das preussische Landrecht proklamierte zuerst (II, 11, § 2): „Jedem Einwohner muss eine vollkommene Glaubens- und Gewissensfreiheit zugestanden werden.“ Vorangegangen war schon in Preussen wie in anderen Ländern die Praxis, in Oesterreich das Edikt Josephs II. von 1781, das freilich nicht lange Geltung behielt. Die französische Revolution wirkte in gleicher Richtung. In England erfolgte erst im 19. Jahrhundert die „Emanzipation“ der Katholiken und Dissidenten im Sinne der bürgerlichen Gleichstellung. Das Gesetz des Nordd. Bundes vom 3. VII. 1869 verkündet die Unabhängigkeit der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte vom Religionsbekenntnis. Tatsächlich unterliegen aber in mehreren deutschen Einzelstaaten Katholiken oder Protestanten und Dissidenten, allgemeiner die Juden, noch vielfachen Beschränkungen durch die Praxis der Regierungen.

Die Bekenntnisfreiheit ist aber nur eine besondere Gestalt der Freiheit, Gedanken und Meinungen zu äussern, und diese hat ihren höchsten Ausdruck in der Lehrfreiheit oder in der Freiheit der Wissenschaft, die grundsätzlich allgemeiner Anerkennung sich erfreut. Sie hat als Korrelat die Lernfreiheit Erwachsener, die als akademische Freiheit besonders im deutschen Hochschulwesen ausgebildet ist.

Eine grosse öffentliche Bedeutung hat die Aeusserung von Meinungen und Urteilen, zumal über politische Dinge, teils unmittelbar in der Rede, teils in der vervielfältigten Schrift, und beide haben eine virtuell unbegrenzte Ausbreitung gewonnen durch den Druck von Büchern, Reden, Flugschriften, insbesondere durch periodische Druckschriften, unter denen die Tageszeitungen eine Weltbedeutung unter dem speziellen Namen der „Presse“ oder „Tagespresse“ erlangt haben. Auf sie bezieht sich daher hauptsächlich die Pressfreiheit, die in den moderneren Gesetzgebungen überall gegen das frühere Institut der Zensur durchgesetzt worden ist, so dass den Vergehen, die durch die Presse begangen werden können, nur noch strafrechtlich, nicht mehr präventiv, entgegengewirkt wird. Das in Preussen durch die oktroyierte Verfassung und das Gesetz vom 12. V. 1851 gewährte Mass von Pressfreiheit ist durch die Reichsverfassung und das Gesetz über die Presse vom 7. V. 1874 erweitert worden. – Die geistigen Freiheiten werden prinzipiell am wenigsten angefochten; auch die Kirchen verneinen die Bekenntnisfreiheit praktisch nur innerhalb ihrer Gemeinschaften, und hauptsächlich für ihre Geistlichen. Die katholische Kirche verlangt für sich selbst nur völlige Kultusfreiheit in den Staaten, wo sie nicht Staatskirche ist.

4. Die Freiheit sich zu versammeln und Vereine zu bilden ist nur eine Betätigung der allgemeinen persönlichen Freiheit, und wird als solche vom Staate geachtet, so lange als die Regierungen und Gesetzgebungen keine gesellschaftliche und politische Gefahr darin zu erkennen glauben. Eine gesellschaftliche Gefahr wurde lange und wird auch noch jetzt vielfach in den Koalitionen der Lohnarbeiter erblickt, zumal unter dem Gesichtspunkte, dass sie in einem Verhältnisse der Abhängigkeit von ihren Meistern und „Brotherren“ stehen. Nachdem aber die modernen Betriebsformen den Zustand des Lohnarbeiters in der Regel zu einem lebenslänglichen gemacht haben, ist ihnen in Konsequenz des Prinzips der wirtschaftlichen Freiheit die Koalitionsfreiheit prinzipiell zugestanden worden , wenn sie auch polizeilich und strafrechtlich beschnitten zu werden pflegt. In Deutschland stand ihnen das buntscheckige Vereins- und Versammlungsrecht, wie es sich in Preussen auf Grund einer „Verordnung“ (11. III. 1850), in mehreren Staaten durch Ausführungs-Gesetze zu den Bundestags-Beschlüssen vom 13. Juli 1854 gestaltet hatte, entgegen. Am 19. April 1908 ist aber ein Vereins- und Versammlungsrecht für das Deutsche Reich zum Gesetz erhoben das die Rechtseinheit auf dies Gebiet ausgedehnt und die bürgerliche Freiheit darin erweitert

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 245. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/265&oldid=- (Version vom 1.8.2021)