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es nicht an, auch steht dafür gar keine Zeit zur Verfügung, wie denn im allgemeinen die höhere Schule deshalb bei weitem nicht so viel leisten kann, wie man oft von ihr verlangt, weil sie zu viele Unterrichtsfächer betreiben muss und dadurch mit Zersplitterung und Verflachung bedroht wird. Aber soviel Zeit lässt sich in den oberen Klassen in der Regel erübrigen, dass schliesslich ein ziemlich geschlossenes Bild unseres jetzigen Staatswesens entworfen wird.

Ausser der Geschichte können andere Lehrfächer, namentlich Religion, Deutsch und Erdkunde, zu staatsbürgerlichen Belehrungen verwendet werden, wenn sich die Gelegenheit dazu ganz ungezwungen findet. Alle Lesebücher, besonders die in den oberen Klassen, müssen auch staatskundlichen Stoff bringen, und aus diesem Gebiete kann zuweilen eine Aufgabe für schriftliche kleine Klassen- oder grössere Hausarbeiten gestellt werden. Auch die kurzen sog. Schülervorträge d. h. möglichst frei gesprochenen Berichte über Gelesenes sind in den Dienst der staatsbürgerlichen Bildung zu stellen, namentlich wenn der Lehrer des Deutschen zugleich in Geschichte unterrichtet. Die Schule kann natürlich nicht alle Zöglinge zu gewandten Rednern ausbilden; denn die dazu erforderliche natürliche Begabung vermag auch der geschickteste Unterricht nicht zu ersetzen. Doch es ist sehr wichtig, dass möglichst viele schon als Schüler sich daran gewöhnen, vor der Klasse ohne Befangenheit kurze Vorträge zu halten. Solche regen die Selbsttätigkeit an und ermöglichen ein tieferes Erfassen der geschichtlichen Zusammenhänge und ihrer Bedeutung, schaffen auch eine dem Interesse am Unterricht sehr förderliche Abwechslung.

Der zweite Weg der Einwirkung ist der auf die Empfindung. Verstandesmässig lässt sich Staatsgesinnung nicht beibringen, sondern nur durch die sittliche Erziehung, die das Gemüt ergreift. Einen Hauch von dem Geiste grosser, von echter Staatsgesinnung beseelter Persönlichkeiten müssen die Zöglinge so oft und so mächtig wie möglich verspüren; Äusserungen aus ihren eigenen Schriften oder Briefen sind mitzuteilen, z. B. aus Fichtes Reden, der die freiwillige Unterordnung des persönlichen Selbst unter das Ganze predigt. Je höher die Fassungskraft der Schüler, desto stärkere und nachhaltigere Eindrücke können erzielt werden durch Anknüpfung der staatsbürgerlichen Belehrung an sittliche Lebensfragen. Doch die Absicht, ihn zu bestimmten Empfindungen anzuleiten, darf der Zögling nie merken, damit er nicht „verstimmt“ wird; vielmehr muss ihm die Überzeugung als eigene Errungenschaft erscheinen. Man kann echte Staatsgesinnung wecken, ohne dieses Wort jemals auszusprechen.

Die dritte Art der Einwirkung, die der Schule zu Gebote steht, ist die auf den Willen. Auch lebhaftes Gefühl hat nicht immer das Wollen zur Folge, und Kenntnisse sind wie Waffen: es kommt ganz darauf an, zu welchem Zwecke sie geführt werden. Es gilt also, den Willen zu einer wahrhaft staatsbürgerlichen Behandlung aller Berufs- und Lebensfragen planvoll zu wecken, zu stärken und zu klären, je nach dem Alter der Schüler. Jede Schule ist ein Staat im kleinen, dessen sämtliche Glieder sich bestimmten Vorschriften unterwerfen müssen. Gehorsam, Ordnungsliebe und Gewissenhaftigkeit sind die für die richtige Auffassung und Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten besonders wichtigen Charaktereigenschaften; daran gewöhnt ja der Schulstaat durch Zwang, aus dem schliesslich die Überzeugung erwächst: es muss so sein, weil es nicht anders sein kann. Die Schulzucht wirkt also auf den Willen ein, und dies ist staatsbürgerliche Erziehung im besten Sinne. In ihren Dienst treten auch die Versuche mit Selbstverwaltung der Schüler, namentlich an den höheren Lehranstalten: Klassenämter werden durch Wahl besetzt, und über die Art der Bestrafung eines Mitschülers entscheiden solche Kameraden, die sich des allgemeinen Vertrauens würdig erwiesen haben. Das Verantwortlichkeitsgefühl wird auch dadurch gehoben, dass sich einzelne Schüler an der Aufrechterhaltung der Ordnung in den Pausen, beim Turnen und bei den Spielen beteiligen. Solche Erziehung zum Führerberufe, die ein sehr wichtiger Teil der staatsbürgerlichen Erziehung gerade auf höheren Lehranstalten ist, muss man besonders denjenigen angedeihen lassen, bei denen man gute und echte politische Instinkte wahrzunehmen glaubt; doch täuscht man sich dabei leicht.

Die Fach- und Fortbildungsschulen treiben in besonderen Lehrstunden Staatskunde mit sorgfältiger Stoffverteilung und nicht als gelegentliche Unterweisung; solche ist ausserdem möglich in verschiedenen Lehrfächern, namentlich in der Wirtschaftsgeographie sowie in der Handelskunde. Es kommt bei alledem darauf an, nicht gelehrtes Wissen, sondern Verständnis des Lebens zu vermitteln, also den Zusammenhang der Berufsarbeit des einzelnen mit dem Leben in der Gemeinschaft zum Bewusstsein zu bringen, das Werden und Wesen wichtiger Einrichtungen des öffentlichen

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 250. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/270&oldid=- (Version vom 1.8.2021)