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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Lebens zu erklären, Achtung vor der Verfassung und der Rechtsordnung einzuflössen, Liebe zur engeren und zur weiteren Heimat zu erwecken sowie Ziele für die freudige Mitarbeit am Staate vor Augen zu stellen. Alle Belehrungen sind daher an das Nächstliegende anzuknüpfen und möglichst anschauliche Beispiele aus dem Erfahrungskreise der jungen Leute auszuwählen, dagegen ist von systematischer Erörterung wirtschaftlicher und rechtlicher Grundbegriffe abzusehen. So können die Fach- und Fortbildungsschulen durch die gesamte Gestaltung der Arbeit den Gemeinsinn und das Verantwortlichkeitsgefühl entwickeln und stärken.

Doch die Einwirkung jedweder Schule bedarf der Unterstützung des Elternhauses, dessen direkte und indirekte Erziehung (z. B. durch Überwachung der oft so verhängnisvollen Lektüre) auch dann nicht entbehrt werden kann, wenn die durch den bekannten Erlass des preussischen Kultusministers vom 18. Januar 1911 näher gekennzeichnete systematische Jugendpflege einsetzt. Auf Grund dieses Erlasses sind bereits neue Organisationen geschaffen worden; doch auch die alten nationalen Verbände, unter denen der die Parteipolitik ganz ausschaltende Deutsche Frauenbund besonders erwähnt sei, müssen sich gegenüber der von der internationalen Sozialdemokratie drohenden Gefahr auf jede Weise an der staatsbürgerlichen Erziehung vor allem der schulentlassenen Jugend beteiligen. Politik und Parteipolitik sind zwar nicht Gegensätze, aber auch nicht identisch. Wer ist ein guter Staatsbürger? Der Konservative, der Liberale, der Zentrumsmann oder derjenige, der allen Massnahmen der Regierung unbedingt zustimmt? Der Angehörige jeder Partei erhebt den Anspruch, ein guter Staatsbürger zu sein, und weist entschieden die Behauptung zurück, er sei es nicht. Daraus ergibt sich, dass der Begriff des Staatsbürgers wesentlich umfassender ist als der des Parteimannes. Dieser will nicht nur Staatsbürger, sondern zugleich Vertreter einer bestimmten politischen Anschauung sein und sie im öffentlichen Leben möglichst zur Geltung bringen, wobei die Gefahr nahe liegt, dass er durch die Parteibrille sieht. Nur derjenige wird dieser Gefahr nicht unterliegen, dem schon in der Schule (s. oben) die Überzeugung von der „heiligen Ordnung“ des Staates und von der Unvermeidlichkeit gewisser Mängel auch bei dieser menschlichen Einrichtung in Fleisch und Blut übergegangen ist, so dass ihm später der Grundgedanke des Staates, die „objektive Sittlichkeit“ als Inbegriff aller Gerechtigkeit, zum unverrückbaren Bestandteil des geistigen Lebens wird. Weil alle Parteien, namentlich die sozialdemokratische, bemüht sind, die Jugend für sich zu gewinnen, so ist eine unbefangene „politische Kinderlehre“ in der Schule unbedingt nötig, damit die Auffassung, der Staat habe über der Partei zu stehen, mehr und mehr im politischen Leben zur Geltung kommt.

Die zwischen Schule und Heeresdienst klaffende Lücke tut vor allem wegen der ebenso eifrigen wie vielseitigen Belehrungen, die von der sozialdemokratischen Partei ausgehen, den nationalen Bestrebungen oft schweren Abbruch. Um diese Lücke in wahrhaft staatsbürgerlichem Sinne auszufüllen, müssen besondere Massnahmen ergriffen werden; in erster Linie kommen freiwillige Fortbildungskurse in Betracht, die nicht von der Schule oder von einer Behörde, sondern von politischen und Bildungs-Vereinen sowie von wirtschaftlichen Verbänden zu veranstalten sind. Alle diese verschiedenen Vereine müssen sich auch die Erweiterung der staatsbürgerlichen Bildung bei Erwachsenen in grösserem oder geringerem Masse angelegen sein lassen, zum staatsbürgerlichen Sinn erziehen, den politischen Willen erwecken, damit ein möglichst weiter Kreis der Staatsbürger mit den Lebensinteressen des Staates verflochten wird und dem Werte des einzelnen für den Staat die Bedeutung des Staates für den einzelnen entspricht. Dann vereint das Band nationaler Lebensgemeinschaft alle Parteien.

Zur Erfüllung dieser Aufgabe kann auch die Grossmacht Presse viel beitragen, weil sie bedeutenden Einfluss auf das politische Denken weiter Kreise ausübt. Daher sollten die weitverbreiteten grösseren Zeitungen niemals das Verbindende über dem Trennenden vergessen und „in jedem Deutschen zuerst den Landsmann, nicht den politischen Gegner sehen“ (Bismarck). Erfreulich ist, dass seit kurzem neutrale Jugendwochenschriften sich in den Dienst der staatsbürgerlichen Bildung stellen.

Im allgemeinen kommt es auch bei der staatsbürgerlichen Erziehung weniger auf Massregeln an als auf Personen, die freudig und tatkräftig in die Zukunft blicken und ihre Überzeugung betätigen: wer das Ganze heben will, muss auf Hebung der einzelnen bedacht sein.



Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 251. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/271&oldid=- (Version vom 1.8.2021)