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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

9. Strenger als die öffentlichen Versammlungen in Lokalen behandelt auch das Reichsgesetz die Versammlungen im Freien und die öffentlichen Aufzüge (§ 7). Sie bedürfen der Genehmigung der Polizeibehörde. Die Genehmigung ist von dem Veranstalter mindestens 24 Stunden vor dem Beginne der Versammlung oder des Aufzugs unter Angabe des Ortes und der Zeit nachzusuchen. Sie ist schriftlich zu erteilen und darf nur versagt werden, wenn aus der Abhaltung der Versammlung oder der Veranstaltung des Aufzugs Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu befürchten ist. Im Falle der Verweigerung ist dem Veranstalter sofort ein kostenfreier Bescheid mit Angabe der Gründe zu erteilen.

Aber auch hier hat der Reichstag wichtige praktische Durchbrechungen des Prinzips beschlossen, indem er ausdrücklich bestimmte, dass eine Versammlung, die in einem geschlossenen Raum veranstaltet wird, nicht schon deshalb als Vers. unter freiem Himmel anzusehen ist, weil ausserhalb des Vers.-Raumes befindliche Personen an der Erörterung teilnehmen oder weil die Versammlung in einen mit dem Versammlungsraume zusammenhängenden umfriedeten Hof oder Garten verlegt wird.
Und ferner bleibt es der Landeszentralbehörde überlassen, die Genehmigung generell durch blosse Anzeige oder öffentliche Bekanntmachung zu ersetzen. Endlich ist ausdrücklich ausgesprochen, dass gewöhnliche Leichenbegängnisse und hergebrachte Hochzeitszüge der Anzeige oder Genehmigung überhaupt nicht bedürfen. Die Befugnis der Dispensation von Anzeige und Genehmigung ist der Landeszentralbehörde im weitesten Sinne gegeben. Von ihr haben in den einzelstaatlichen Ausführungsbestimmungen die Polizeibehörden auch schon mancherlei Gebrauch gemacht (z. B. für Kirmesszüge, Studentenumzüge usw.).

10. Auch die weitere Abwickelung der öffentlichen politischen Versammlungen regelt das Gesetz, indem es vorschreibt, dass jede solche Versammlung einen Leiter haben muss. Der Veranstalter kann die Leitung selbst übernehmen oder sie übertragen. Leiter oder Veranstalter haben jedenfalls für Ruhe und Ordnung zu sorgen und das Recht, event. die Versammlung für aufgelöst zu erklären. Die Polizeibehörde kann in jede öffentliche Versammlung – ob politische oder unpolitische – Beauftragte entsenden. Sie haben sich in dieser Eigenschaft dem Leiter oder Veranstalter vorzustellen. Dann muss ihnen ein „angemessener Platz“ eingeräumt werden. Ausdrücklich ist aber bestimmt, dass die Polizeibehörde nicht mehr als zwei Beauftragte zu einer solchen öffentlichen Versammlung entsenden darf.

Das Verbot des Waffentragens in Versammlungen hat sich auch in das Reichsgesetz hineingeflüchtet.

11. Auch das Recht der Auflösung der Versammlung durch die Polizei ist im Gesetze genau und erschöpfend geregelt (§ 14).

Hervorzuheben ist hier ausser den Übertretungen des sog. „Sprachenparagraphen“ (s. unten) vor allem das Recht der Auflösung, „wenn in der Versammlung Anträge oder Vorschläge erörtert werden, die eine Aufforderung oder Anreizung zu Verbrechen oder nicht nur auf Antrag zu verfolgenden Vergehen enthalten“.
Ist eine Versammlung für aufgelöst erklärt worden, so hat die Polizeibehörde dem Leiter der Versammlung die mit Tatsachen zu belegenden Gründe der Auflösung schriftlich mitzuteilen, falls er dies binnen drei Tagen beantragt: Eine Bestimmung, die der Auflösungswillkür der Polizeibehörden einen um so wirksameren Riegel vorschieben soll, als die Anfechtung der Auflösung einer Versammlung dem Verwaltungsstreitverfahren unterliegt.
Sobald eine Versammlung für aufgelöst erklärt ist, sind die Anwesenden verpflichtet, sich sofort zu entfernen – selbst wenn die Auflösung später als ungerechtfertigt erklärt wird: eine in der Praxis hart empfundene Entscheidung!

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/278&oldid=- (Version vom 1.8.2021)