Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/279

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

12. Die crux des Gesetzes bildete in den Parlamentsverhandlungen der sog. Sprachenparagraph:

Die Verhandlungen in öffentlichen Versammlungen sind darnach (§ 12) in deutscher Sprache zu führen: Ausnahmen sind ex lege für internationale Kongresse sowie auf Wahlversammlungen für Reichstag und Landtag während der Wahlzeit vorgeschrieben. Hier kann also jederzeit ohne jede Anmeldung in fremder Sprache verhandelt werden. Die Zulässigkeit weiterer Ausnahmen regelt die Landesgesetzgebung. In Landesteilen mit mindestens 60% alteingesessener Bevölkerung nichtdeutscher Muttersprache,[1] ist in den ersten 20 Jahren (also bis 15. Mai 1928) der Mitgebrauch der nichtdeutschen Sprache gestattet, wenn der Veranstalter mindestens dreimal 24 Stunden vor dem Beginn der Versammlung der Polizei die Anzeige erstattet, dass und in welcher fremden Sprache die Verhandlungen geführt werden sollen. Weitere spezielle oder generelle Ausnahmen kann die Landesgesetzgebung wie die Landeszentralbehörde zulassen.
Die leidenschaftlich bekämpfte, praktisch beiderseits überschätzte Bestimmung des § 12 ist lediglich gegen die Polen gerichtet.
Der § 12 gilt übrigens für alle öffentlichen Versammlungen – gleichviel ob politische oder nicht politische. Die meisten Bundesstaaten haben ausdrücklich generell für die Gewerkschaftsverhandlungen des § 6 Abs. 3 des Ges. den Gebrauch der nichtdeutschen Sprache für zulässig erklärt, Preussen noch nicht.

13. Die Strafbestimmungen des Gesetzes (§ 18 u. § 19) sind im Verhältnisse zu den bisherigen Gesetzen niedrig, meist Übertretungsstrafen (Geldstr. bis zu 150 Mk., an deren Stelle im Unvermögensfalle Haft), niur in vereinzelten Fällen (§ 19) Vergehensstrafen (Geldstrafe bis 300 Mk. oder Haft).

14. Aufgehoben werden ausdrücklich durch das Gesetz § 17 Abs. 2 des Wahlges. vom 31. Mai 1869, der § 2 Abs. 2 des Einf.Ges. zum Str.G.B., soweit er sich auf die bes. Vorschriften des Landesstrafrechts über Missbrauch des Vereins- u. Vers.-Rechts bezieht und der § 6 Abs. 2 No. 2 des Einf.Ges. zur R.Str.Pr.O. Die sonstigen reichsgesetzlichen Vorschriften über Vereine und Versammlungen (siehe oben) bleiben in Kraft (s. die aufgehobenen landesrechtl. Vorschriften bei Dr. Müller a. a. O. S. 694 ffl.) Weiter bleiben in Kraft die oben bereits erwähnten Bestimmungen des Landesrechts über kirchliche u. relig. Vereine, über Prozessionen, Wallfahrten usw., sowie über geistliche Orden, die Vorschriften über die Versammlungen während des Belagerungszustandes u. bei Aufruhr, die Vorschriften über Verabredung ländlicher Arbeiter u. Dienstboten (s. Näheres oben), sowie zum Schutze der Feier der Sonntage und Festtage; jedoch sind für Sonntage, die nicht zugleich Festtage sind, Beschränkungen des Versammlungsrechts nur bis zur Beendigung des vormittägigen Hauptgottesdienstes zulässig. –

Die Durchführung des Gesetzes machte bisher wesentliche Schwierigkeiten nur in Preussen, nachdem sich auch in Sachsen in den letzten Jahren die Praxis den neuen Grundsätzen wesentlich anbequemt hat. –
Das Reichsvereinsgesetz ist für absehbare Zeit nicht das Endziel der Entwickelung auf diesem wichtigstem Gebiete politischer Betätigung. Es ist aber unzweifelhaft die wichtigste Etappe seit der Gesetzgebung des Jahres 1848: ein erfreulicher Schritt der Schaffung einheitlichen Rechts und gesteigerter Garantie gegen polizeiliche Willkür und politische Chikane.




  1. Ein genaues Verzeichnis der betr. Bezirke wurde alsbald von der preussischen Regierung aufgestellt.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/279&oldid=- (Version vom 1.8.2021)