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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

eigene Wohnung oder ein Unterkommen sich selbst zu verschaffen imstande ist, der Aufenthalt verweigert oder durch lästige Bedingungen erschwert werden darf.[1] Einer Abänderung des Freizügigkeitsgesetzes hat es bisher nicht bedurft,[2] und es ist anzunehmen, dass sich in absehbarer Zeit eine Mehrheit für eine Einschränkung der Freizügigkeit im Deutschen Reiche nicht finden wird.[3]

Das Jesuitengesetz[4] ist ein Ausnahmegesetz, das von seiten der Katholiken als Härte empfunden wird,[5] und ihrem Grundsatze entsprechend, insbesondere das Recht der Religionsgesellschaften gegen Eingriffe der Gesetzgebung zu schützen,[6] hört die Zentrumsfraktion nicht auf, die Beseitigung der noch geltenden Bestimmungen dieses Gesetzes zu erstreben, zurzeit ohne Aussicht auf Erfolg.[7]

Ein weiteres Ausnahmegesetz, das Reichsgesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom Jahre 1878, war bis 1890 in Kraft.

II. Das Gesetz über den Unterstützungswohnsitz vom Jahre 1870 gilt jetzt in der Fassung vom Jahre 1908. Danach erwirbt den Unterstützungswohnsitz, wer nach zurückgelegtem sechszehnten Lebensjahr sich ununterbrochen ein Jahr in einem Ortsarmenverbande aufgehalten hat.


  1. Loening, Verw. R. S. 261: Während in Frankreich schon die Verfassung vom 3. Sept. 1791 (Tit. I) die Freiheit eines jeden Menschen, zu reisen, sich aufzuhalten und wegzuziehen, garantiert hatte, war durch die deutsche Bundesakte von 1815, Art. 18 den Angehörigen der deutschen Staaten nur die Befugnis zugesichert, in denjenigen Bundesstaat zu ziehen, der sie nachweislich zu Untertanen annehmen wollte.
  2. Abgesehen von einer unwesentlichen Änderung, die § 2 durch das Einführungsgesetz zum B.G.B. erfahren hat.
  3. v. Knebel Doeberitz, Die Reform der Freizügigkeit ; ein Problem der Bevölkerungspolitik, Zeitschrift für Politik (1909) 2,42 schlägt vor, die bestehende Gesetzgebung über die Freizügigkeit durch die Vorschrift zu ändern, dass den jugendlichen Landarbeitern gesetzlich verboten werden soll, vor Erreichung eines bestimmten Mindestalters – nicht vor dem achtzehnten Lebensjahr, eventuell vor der Mündigkeit – in die Grossstadt zu verziehen. – Damit wird ein Gedanke zum Ausdruck gebracht, der vielen Interessenten an der Landeskultur geläufig ist. Das hier vorgeschlagene Mittel dürfte wohl das letzte sein, das zur Verhütung der Entvölkerung des platten Landes und des übermässigen Anwachsens der Städte zur Anwendung zu bringen ist. Die Erbuntertänigkeit ist nun einmal abgeschafft, und es muss damit gerechnet werden, dass ein den früheren Zeiten ähnlicher Zustand sich nicht herbeiführen lässt. Eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit würde schon deshalb nicht den erwünschten Erfolg haben, weil der zurzeit auf dem Lande herrschende Mangel an geeigneten Arbeitskräften doch nur zum Teil eine Folge der Freizügigkeit ist, sondern im wesentlichen durch die ungünstigen Arbeitsbedingungen verursacht ist. Es liegt daher näher, hier mit dem Reformen einzusetzen, das geltende Reichsrecht aber unverändert zu lassen.
  4. Zu den verwandten Orden und ordensähnlichen Kongregationen rechnet die Bekanntmachung des Bundesrats vom 20. Mai 1873 die Kongregationen der Redemptoristen, Lazaristen und Priester vom heiligen Geiste und die Gesellschaft vom heiligen Herzen Jesu.
  5. Vgl. Frins S. J. Art. Jesuiten, Staatslexikon 2,1356: Das Verhältnis der Staatsgewalt zum Orden ist als ein in einzelnen Ländern dem Orden höchst feindseliges zu bezeichnen. Der § 2 ist zwar aufgehoben. Gleichwohl bleiben die Jesuiten in Deutschland, ähnlich wie in Frankreich, Russland und in der Schweiz den härtesten Ausnahmebestimmungen unterworfen, da die auf Grund von § 3 des Jesuitengesetzes erlassene Bundesratsverfügung dem einzelnen Jesuiten jede Ordenstätigkeit untersagt. Bachem, Art. Freizügigkeit, Staatslexikon 2,329 rechnet die Bestimmungen des Jesuitengesetzes zu den Ausnahmen von der Freizügigkeit, welche als grosse Widersprüche zu bezeichnen sind, durch welche aus besonderen, nicht in der Sache liegenden Gründen politischer Natur und ebenso kurzsichtigen wie engherzigen Charakters die Freizügigkeit aufgehoben ist. – Bek. d. Reichsk. vom 5. Juli 1872 (R.G.Bl. S. 264), dazu Beschl. d. Reichsk. vom 28. Nov. 1912 (R.G.Bl. S. 553): Verbotene Ordenstätigkeit ist jede priesterliche oder sonstige religiöse Tätigkeit gegenüber anderen sowie die Erteilung von Unterricht. Unter die verbotene religiöse Tätigkeit fallen nicht, sofern nicht landesherrliche Bestimmungen entgegenstehen, das Lesen stiller Messen, die im Rahmen eines Familienfestes sich haltende Primizfeier und das Spenden der Sterbesakramente. Nicht untersagt sind wissenschaftliche Vorträge, die das religiöse Gebiet nicht berühren. Die schriftstellerische Tätigkeit wird durch das Verbot nicht betroffen.
  6. Programm der Zentrumsfraktion des Deutschen Reichstags vom 21. Mai 1871 Ziffer 2: für die bürgerliche und religiöse Freiheit aller Angehörigen des Reichs ist die verfassungsmässige Feststellung von Garantien zu erstreben und insbesondere das Recht der Religionsgesellschaften gegen Eingriffe der Gesetzgebung zu schützen.
  7. Dagegen ist das Reichsgesetz, betr. die Verhinderung der unbefugten Ausübung von Kirchenämtern, vom 4. Mai 1874 durch G. vom 6. Mai 1890 aufgehoben.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 263. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/283&oldid=- (Version vom 2.8.2021)