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sind; ja es gewöhnt sich daran, den gleichgiltigsten Dingen deshalb Bedeutung beizulegen, weil sie unter den Telegrammen stehen.

Nur die grossen Zeitungen wissen sich und ihre Leser dieser alles verschlingenden Flut durch Haltung eines Stabes guter Mitarbeiter und Korrespondenten zu entziehen. Sie halten auf Originalmitteilungen und suchen es in der Raschheit, Vielseitigkeit und Zuverlässigkeit der Berichterstattung den Agenturen zuvorzutun und wo nötig, sie zu kontrollieren und zu berichtigen. Vor allem aber liegt ihnen ob, an dem täglich fliessenden Nachrichtenstoff die rein geistige Arbeit zu leisten, welche nötig ist, ihn den Lesern lebendig und verständlich zu machen. Hierzu bedürfen sie der Mitwirkung zahlreicher sachkundiger Kräfte, die zum Teil der Redaktion eingegliedert werden, zum Teil in freier Mitarbeit sich betätigen.

Der Verfassungsstaat der Gegenwart bedarf der Erörterung der öffentlichen Angelegenheiten in der Presse als einer notwendigen Ergänzung der von Regierung und Volksvertretung geleisteten Arbeit. Durch sie kann erst die Mitwirkung des ganzen Volkes, welche dem parlamentarischen System als Leitmotiv zugrunde liegt, ohne je durch dieses allein verwirklicht werden zu können, zur Wahrheit werden. Die Presse verbreitet Aufklärung über die obschwebenden Fragen der Gesetzgebung in weitesten Kreisen; sie lässt jede Art von Sachkunde zu Worte kommen und ermöglicht dadurch die Berücksichtigung von Gesichtspunkten und Interessen, welche das parlamentarische System für sich allein nie zur Geltung gebracht haben würde.

Man hat die Stellung, welche die Zeitungspresse der Regierung gegenüber einnimmt, mit dem römischen Volkstribunat verglichen. Das ist nur in sehr beschränktem Masse richtig. Die Rolle der Volkstribunen war eine einseitig negative; sie schützten den Plebejer gegen den Missbrauch patrizischer Amtsgewalt. Die Rolle der modernen Zeitungen aber ist eine zweiseitige. Sie nehmen ebensowohl die politischen Strömungen, welche von der Regierung ausgehen, auf, um sie auf die Masse überzuleiten, wie sie die in den Volksmassen entstehenden Gegenströmungen zu den führenden Kreisen zurückleiten. Aber sie haben keinerlei Interzessionsrecht ausser dem rein geistigen, wie es durch die öffentliche Kritik von Regierungsmassnahmen gegeben ist.

Und weit über das Gebiet des staatlichen Lebens geht diese geistig vermittelnde Tätigkeit der Presse hinaus. Auch in Kunst und Wissenschaft und in jeder Art sozialer Betätigung nimmt sie die von hervorragenden Geistern ausgehenden Anstösse auf, um sie auf das ganze Volk überzuleiten, wie sie umgekehrt der massenpsychologischen Reaktion auf solche Einwirkungen zum Ausdruck verhilft. Sofern sie den von der Masse ausgehenden Ideenströmungen Ausdruck und Richtung gibt oder auf ihrem Grunde bestimmte Forderungen ausgestaltet, wird sie zur Trägerin der öffentlichen Meinung. Sie kann diese Meinung nicht schaffen; aber sie kann sie sondieren und bearbeiten, ihr Ziel und Weg weisen; aber auch sie irreführen und korrumpieren. Das letztere insbesondere infolge ihrer Tag für Tag sich wiederholenden geistigen Einwirkung, die für jedes neue Vorkommnis ein fertiges Urteil bietet, ehe der Leser noch Zeit gefunden hat, seine Bedeutung und Tragweite zu überdenken. Die Zeitungsmeinung wirkt auf die Masse suggestiv wie alles Gedruckte, lähmt ihre Urteilskraft und versetzt sie in einen Zustand, in dem sie willenlos sich führen lässt.

Allerdings ist die Presse zugleich Vermittlerin eines unermesslichen Kulturinhaltes, mit dem sie die Kenntnisse ihrer Leser bereichert und sie aus der Enge ihres individuellen Daseins zu überschauender Höhe emporhebt. Sie bringt die Völker einander näher, lässt sie gegenseitig teilnehmen an ihren Geschicken, mildert die zwischen ihnen bestehenden Gegensätze. Aber sie kann unter Umständen auch genau das Gegenteil bewirken, wenn sie den Nationalhass schürt und bestehende Spannungen erweitert. Dagegen wirkt sie ausserhalb der Kreise der Politik in eminentem Masse kulturfördernd und kulturerhaltend. Keine neue wissenschaftliche Wahrheit, keine Erfindung oder Entdeckung kann mehr verloren gehen, wenn sie einmal den Weg in die Presse gefunden hat. Allerdings können die Kenntnisse, welche die Zeitung bietet, nur oberflächlich sein; sie müssen dem Verständnis der Masse angepasst werden; sie geben in der Regel nur Anregungen. Aber schon darin liegt ein grosser Segen, dass die Presse jeden nach seinem Vermögen an den Fortschritten der geistigen Kultur teilnehmen lässt.

Ferner ist die volkswirtschaftliche Rolle der Presse nicht zu unterschätzen. Nicht nur, dass sie in ihrem reich entwickelten Annoncenwesen Angebot und Nachfrage vermittelt und im täglichen

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 268. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/288&oldid=- (Version vom 3.8.2021)