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verstanden wissen will (z. B. Art. 2 EG. z. BGB, § 12 EG. z. ZPO.). Im typischen Sinne begreift man indessen unter „Gesetzgebung“ jetzt nur die formelle Gesetzgebung.

Über die Scheidung von „Gesetzesinhalt“ und „Gesetzesbefehl“ vgl. den späteren Abschnitt des Handbuchs „formelle Gesetzgebung“.

Die Gegenüberstellung von formellem und materiellem Gesetze hat einen lebhaften Streit der Meinungen entfacht, indem die einen in jedem Gesetze auch eine Rechtsvorschrift erblicken (v. Martitz, Zorn, Löning), während andere den Begriff des Gesetzes formal fassen als von der obersten staatlichen Gewalt ausgehende Vorschrift, ohne dass der Inhalt gerade eine Rechtsnorm zu sein brauche (Gneist, Arndt, Bornhak). Beide Extreme sind indes im Ergebnisse für die Handhabung der Gesetzgebung nicht so sehr weit von der herrschenden Lehre (Laband, Anschütz, Hubrich) entfernt, wie es den Anschein hat.[1] Die Frage allerdings ist kein müssiger Lehrstreit, sie ist politisch überaus bedeutsam. Es handelt sich darum, ob es nötig ist, für gewisse Gegenstände die Organe der Gesetzgebung in Bewegung zu setzen, oder ob es möglich ist, durch Anordnung eines Verwaltungsorgans vorzugehen, namentlich des Landesherrn. Den letzteren Weg wird eine Regierung anstreben, um sich nichts von ihrem Recht zu vergeben, aber auch, um nicht später bei dem Erfordernis einer Änderung an die Zustimmung des Parlaments geknüpft und in ihrer Bewegungsfreiheit gehemmt zu sein.[2] Eine Regelung durch Verordnung ist nun in denjenigen Fällen ausgeschlossen, wo eine Regelung durch Gesetz ausdrücklich gesetzlich vorgeschrieben oder schon erfolgt ist, da die gesetzgebende Gewalt über der exekutiven steht; sodann und vor allem, wo es sich um die Setzung einer Rechtsnorm handelt und nicht ein besonderer Vorbehalt getroffen ist. Dieser Vorbehalt kann allgemein lauten. Er besteht in Preussen zugunsten des Königs für Ausführungsvorschriften zu Gesetzen, für die Regelung der Behördenorganisation und für sogenannte Notverordnungen, zugunsten nachgeordneter Instanzen für Polizeiverordnungen und für mannigfaches Statutarrecht. Die Rechtslage ist im einzelnen nicht für jeden Staat dieselbe und ist trotz der zeitweise mehr als lebhaften literarischen Bewegung auf diesem Arbeitsfelde noch keineswegs erschöpfend für die einzelnen deutschen Staaten untersucht. Im Reiche ist es streitig, ob dem Bundesrate das Recht zu Ausführungsvorschriften mit rechtsverbindlicher Kraft allgemein zustehe, was die – nicht unanfechtbare – herrschende Lehre und das Reichsgericht verneinen. Unter diesen Umständen wird gerade im Reiche vielfach der Ausweg einer Uebertragung (vgl. Ziffer 6) gewählt.

4. Reichsgesetz – Landesgesetz. In einem zusammengesetzten Staatskörper, wie ihn das deutsche Reich zeigt, ist durch die Erhaltung der einzelnen Teile in ihrem Wesen als Staaten auch die Möglichkeit geschaffen, dass innerhalb eines jeden Staatsgebietes und gegenüber den einzelnen Staatsangehörigen ein doppelter Gesetzgeber vorhanden ist. Wer hier den Vortritt haben soll, das wird nach Kriterien der politischen Entwicklung und des wirtschaftlichen, zumal des Verkehrsstandes, verschieden bestimmt sein können. Der Satz „Landrecht bricht Reichsrecht“ braucht nicht ein Zeichen staatlicher Ohnmacht zu sein – heute würden wir ihn aber dermassen empfinden. Darum gibt Artikel 2 unserer Reichsverfassung dem Reichsgesetze den Vorrang (wie es schon der Entwurf der Frankfurter Nationalversammlung begehrte). Soll diese Regelung aber nicht gleichbedeutend sein mit einer unerwünschten Aufsaugung der einzelstaatlichen Gewalt, so muss eine Abgrenzung der Zuständigkeiten erfolgen. Dieser Anforderung ist insbesondere durch Art. 4 der Reichsverfassung (unter Vorbehalt der Erweiterung Art. 78) Rechnung getragen. Doch bleibt erheblichem Zweifel Raum, von welchem Zeitpunkte ab für den Einzelstaat das Recht zur Gesetzgebung gesperrt ist. Man wird der Annahme beipflichten können, dass dies erst nach einer gesetzgeberischen Betätigung des Reiches auf dem seiner Zuständigkeit zugeschriebenen Gebiete der Fall ist. Mit dieser Annahme ist aber nur die erste Schwierigkeit behoben. Es bleibt Tatfrage, ob und inwieweit mit der Regelung einer Einzelfrage durch das Reich schon das ganze Gebiet den Gliedstaaten verschlossen werde. Eine weitere Frage ist es, ob beim blossen


  1. Rehm sucht den Ausgleich in einer dritten Gruppe „konstitutionelles Gesetz“ (Verwaltungsarchiv 14, 1906, S. 353).
  2. Die Frage war z. B. bei den Vorberatungen über die Errichtung einer Universität in Frankfurt a. M. aufzuwerfen.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 277. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/297&oldid=- (Version vom 1.8.2018)