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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

(unersetzten) Wegfalle eines Reichsgesetzes der Landesgesetzgeber für jenes Sachgebiet wieder freie Hand bekommt.[1] Die Frage ist nicht einheitlich zu entscheiden. Es kommt darauf an, ob der Reichsgesetzgeber ein gesetzliches Vakuum schaffen wollte. Dann bindet dies den Gliedstaat. Ist dies aber nicht anzunehmen, so liegt die Sache so, als wenn das Reich von seiner Zuständigkeit noch gar keinen Gebrauch gemacht hätte: Der Gliedstaat erhält freie Hand für seine Gesetzgebung. Ohne Zweifel ist dies der Fall, wenn das Reich etwa seiner Satzung von vornherein eine bloss vorübergehende Geltung gegeben hat.

Wohl zu scheiden hiervon ist die weitere Frage, ob mit dem Wegfall der Reichssatzung eine frühere Landessatzung von selbst wieder zu Kräften komme. Das ist so wenig der Fall, wie ein älteres Landesgesetz dadurch, dass ein jüngeres wieder beseitigt wird, von selbst wieder auflebt.

5. Ergänzungsbedürftige Gesetze sind solche, die inhaltlich unvollständig sind. Sie begegnen uns namentlich in Verfassungsgesetzen, die, unter politischer Spannung geschaffen, oft zahlreiche Einzelfragen ausdrücklich einer Gesetzgebung der Zukunft vorbehalten. Auch in der Folge fehlt es nicht an gesetzlichen Verheissungen zu politischer Beschwichtigung (vgl. unten III Ziff. 1). Doch auch andere in der Sache gelegene Verhältnisse können für solche Lückenhaftigkeit den Anlass geben. Hier ist es besonders eine zweckdienlich erscheinende Überantwortung oder Anerkennung der Regelung gewisser Rechtsverhältnisse durch andere Organe. Das wäre für das Reich der Landesgesetzgeber oder auch der Kolonialgesetzgeber, oder überhaupt ein ganz ausserhalb der gesetzgebenden Körperschaften stehendes Organ (Delegation, Ziffer 6), „Rahmengesetze“ nennt die österreichische Rechtssprache in ansprechendem Bilde die ersten Gruppen.[2] Hierbei kann die in den Rahmen zufügende Norm auch ausserhalb des Rahmens selbständige Bedeutung haben und bewahren – interessante Beispiele: § 19 Reichsbeamtengesetz, § 19 Konsulargerichtsbarkeitsgesetz – oder aber lediglich innerhalb des Rahmens Wirkung gewinnen. Aus dem Strafrechte gehören hierher die von Binding sogenannten „Blankettgesetze“, deren Tatbestand die Definition der verbotenen Handlung nicht aus der Norm wiederholt, vielmehr die Straffolge an die Übertretung eines nur generisch bezeichneten Gebots oder Verbots knüpft.[3] Ergänzende Gesetze dieser Art sind gegenüber dem ergänzungsbedürftigen Gesetze selbständig.

Zweierlei darf hiermit nicht vermengt werden: Gesetze, die sich selbst ein anderes Gesetz einverleiben. Dadurch wird dieses zum Bestandteil des ersten Gesetzes, erstarrt in seiner gegenwärtigen Gestalt. Ein Beispiel bietet Art. 68 der Reichsverfassung über den Kriegszustand, der die Vorschriften des preussischen Gesetzes vom 4. Juni 1851 übernimmt. Das ist Flickwerk, und gerade dieses Beispiel zeigt das Bedenkliche[4] solcher hinkenden Gesetze; denn der gesetzliche Fremdkörper findet sich nicht so restlos, wie es der Gesetzgeber bei seiner Einverleibung vermeint, in das Gefüge der neuen Gesetzeseinheit. – Als „Mantelgesetze“ bezeichnet man das Sondergesetz, das bei einer Gruppe von parallel laufenden Einzelgesetzen dazu bestimmt ist, die grundlegenden, ihnen allen gemeinsamen Vorschriften zusammenzufassen (vgl. die 4 Unfallversicherungsgesetze vom 30. Juni 1900 neben solchem Mantelgesetz).

Beides hat nur gesetztechnische Bedeutung.

6. Eine Übertragung der Rechtssetzung an Stelle des Gesetzgebers auf ein anderes Organ ist vom konstitutionellen Standpunkte aus nur zur Ergänzung zu rechtfertigen, besonders, wenn es sich um Einzelheiten handelt, die in den Voraussetzungen noch nicht absehbar sind, wohin auch die Bestimmung des Zeitpunktes für den Beginn der Geltung eines Gesetzes zu rechnen ist, oder die häufigen Schwankungen unterliegen. Wo, wie im Reiche, eine allgemeine Delegation fehlt oder doch zweifelhaft ist, ruft der Mangel Einzelübertragungen in Fülle hervor. So für die


  1. Die Stellungnahme in all diesen Punkten wird praktisch (und wird in verschiedenem Sinne erörtert) für den Fall einer Aufhebung des Reichsgesetzes über die Jesuiten.
  2. Franz Weyr, Rahmengesetze. 1913; v. Herrnritt, Handbuch des österreichischen Verfassungsrechts, 1909 S. 201, 202.
  3. Binding, Handbuch des Strafrechts I 179.
  4. Vgl. Fleischmann, „Belagerungszustand“ (Wörterbuch des Staats- u. Verwaltungsrechts2 I 398).
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 278. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/298&oldid=- (Version vom 1.8.2018)