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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Die Gefahr, dass der Richter mit dem letzten Worte im Staatsleben auch die Herrschaft darin hätte, blieb den grossen Gesetzgebern nicht verborgen, die Vorkehrung trafen, dass die letzte Entscheidung wieder in die Hand des Gesetzgebers zurückfiele. Dem Gesetz als Herrscherwort droht Gefahr aber auch vom Interpreten; darum in früherer Zeit das Verbot von Kommentaren oder die Einschränkung der Interpreten (patentierte Juristen, die congregatio concilii Tridentini interpretum). Ein Umschwung in dieser Auffassung war erst politisch gefesteter Zeit vorbehalten, die den Träger der Staatsgewalt nicht mehr argwöhnisch sein lässt gegen jede Regung, die als eine Verschiebung der Machtgrenzen gedacht werden könnte.

1. Das Prüfungsrecht.

Im absoluten Staate mehren sich die Anordnungen bestimmter Verkündungsformen gerade für das „Gesetz“, und es wird eingeschärft, dass man nur diese Erlasse als „Gesetze“ betrachte. Verlangt oder erwartet wird also eine Prüfung der Authentizität.[1] Sie beschränkte sich und konnte sich beschränken auf Art und Ort der Verkündigung. Anders ist die Stellung des Zugehörigen zum modernen Staate gegenüber den Massnahmen der Staatsgewalt. Es entspricht dem Anteile, den heut die Bevölkerung an der Bildung des staatlichen Willens hat, dass sie auch nach allen Richtungen prüfen kann, ob eine obrigkeitliche Massnahme ein Gesetz sei. Das erschöpft sich nicht in der Beobachtung der Formalien; denn Gesetz ist eben nur das, was durchweg den Anforderungen Rechtens entspricht. Da kommt ausser der Verkündung auch noch anderes aus dem Hergange der Gesetzgebung in Frage (Stimmenverhältnis, Öffentlichkeit der Sitzung, Abstimmungsformen); ferner aber z. B., ob der Gliedstaat nicht die Grenzen seines Machtbereiches überschritten und in die Zuständigkeit des Reiches eingegriffen habe; schwerlich, immerhin aber nicht ausgeschlossen, ob das Reich nicht die selbstgesteckten Grenzen überschritten habe. Das hat jeder zu prüfen, den es angeht, im Streitfalle also die zur Entscheidung berufenen Organe. Darum spricht man a potiori von einem richterlichen Prüfungsrecht. Es besteht überall, wo es nicht vom Gesetze ausdrücklich ausgeschlossen ist. Dadurch, dass einem an der Gesetzgebung beteiligten Organe eine Pflicht zur Prüfung des ordnungsmässigen Gesetzesvorganges auferlegt ist, wenn man dies auch mit Laband bezüglich der Reichsgesetze für den Kaiser (Ausfertigung) annehmen kann, wird an dieser Rechtslage nichts geändert. Ebensowenig durchschlagend ist die Befürchtung, dass aus einer Zulassung der Prüfung eine unabsehbare Verwirrung, ein Sinken der Achtung vor dem Gesetze, wie in den Vereinigten Staaten von Amerika, die Folge sein müsste. Der praktische Gesichtspunkt darf gewiss nicht bei einer grundsätzlichen Untersuchung ausgeschaltet werden. Aber er ward bei einer Abwägung der inbetracht kommenden Werte als der mindere erscheinen. Die Befürchtung wird übertrieben. In den Vereinigten Staaten von Amerika stehen allerdings zahlreiche Gesetze auf dem Papiere, unbeachtet oder mit Erfolg umgangen. Das hat aber nichts mit dem richterlichen Prüfungsrechte zu tun, sondern ist der Rückschlag gegen die dort eingerissene Überernährung mit Gesetzen (vgl. unten Anm. 52), für die die richterliche Nachprüfung im Lande selbst gemeinhin als das erwünschte Gegengewicht betrachtet wird. Die Erfahrungen in Deutschland stützen die Befürchtungen keineswegs, dass quivis ex populo den Gang der Staatsmaschine lahm legen oder die Staatsgewalt diskreditieren könnte. Selbst die radikalen Parteien sind im Reiche auf dieses Mittel nicht verfallen. Und auch bei der Nachprüfung von Polizeiverordnungen durch den Richter lässt sich ein Sinken der Achtung vor diesen Normen, auch wenn sie hin und wieder für nicht rechtswirksam erkannt werden, nicht beobachten.

Nur wo das Gesetz selbst einen Riegel vorschiebt, z. B. in Preussen nach Art. 106 der VU., in Oldenburg nach Art. 141 § 2, wird man diesen „absolutistischen Rest“ hinnehmen müssen – ein Zeichen aber auch, dass man es für nötig hält, wofern die Einschränkung gelten soll, sie ausdrücklich zu bestimmen.

Die praktische Bedeutung der Frage[2] ist unter normalen politischen Zeitläuften gegenüber Gesetzen (anders Verordnungen) nicht erheblich. Theoretisch, für die Gewaltenverteilung im Staate, wird die Frage zum Angelpunkte.


  1. Vgl. Fleischmann, der Weg der Gesetzgebung in Preussen 1898 Seite 66.
  2. Sie ist ausserordentlich häufig erörtert (vgl. die Schriften bei Meyer-Anschütz §§ 173, 179), nicht ohne Einfliessen politischer Momente. Einst erfasste sie Männer mit schon begründetem wissenschaftlichen Rufe, jetzt ist sie ein beliebtes Dissertations-Thema. Auch daraus lassen sich Schlüsse ziehen. Bedeutsam wird uns immer bleiben jene Abhandlung von Planck (in Iherings Jahrb. 9 (1868) 288 fg.), der als Richter seine Überzeugung ohne Scheu vor den Folgen in die Tat umsetzte. (Vgl. Frensdorff im Biographischen Jahrbuch XV, 1913, S. 4.)
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 280. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/300&oldid=- (Version vom 1.8.2018)