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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1


2. Die Auslegung.[1]

Der Richter ist des Gesetzes Diener. Das Gesetz zeigt seinen vollen Sinn erst bei der Handhabung; es ist dann zuweilen klüger als der Gesetzgeber. Im Wesen des absoluten Staates lag es freilich, diese Erkenntnis möglichst hintanzuhalten; er verpflichtete deshalb bei zweifelhaftem Sinne des Gesetzes den Richter zur Anfrage bei einer mit der Gesetzgebung befassten Instanz (nach §§ 47, 48 der Einleitung zum preussischen Allgemeinen Landrecht: der Gesetzeskommission) und band ihn an deren Auffassung. Das kam in das 19. Jahrhundert nicht hinüber, wenigstens nicht für Altpreussen.[2] [3] Selbständig vom Worte geht die Auslegung aus; den Sinn aber hat sie zu erforschen, indem sie den Zusammenhängen in dem Gesetzgebungswerke und des Gesetzes mit den Zeitverhältnissen nachgeht. Die verfeinerte Technik des Gesetzes, namentlich die mehr und mehr vervollkommnete Systematik, bietet wertvolle Anhaltspunkte. Die Schwierigkeiten steigern sich jedoch auch mit den Fortschritten in der Abstraktion der Fassung oder sie verringern sich nicht gerade. Die Auslegung des Gesetzes ist keineswegs bloss ein logisches Vorgehen; häufig genug ein teleologisches, das ethische und wirtschaftliche Momente berücksichtigen, Interessen vielfältig abwägen muss. Auch eine Zeit, die sich mit grösserer Neigung einem Systeme der „Hermeneutik“ zuwandte als die Gegenwart, hat uns hierfür wenig feste Massstäbe übermittelt. Die ratio legis selbst ist nichts für alle Zeiten Festes: als die Brüsseler Antisklavereiakte (1890) die Waffeneinfuhr nach Afrika in strenge Aufsicht nahm, geschah dies zum Schutze für die Eingeborenen (gegen die Sklavenhändler); heute dient dieselbe Norm dem Schutze gegen die Eingeborenen (für die Kolonisten). Der Wandel der Umstände, namentlich der organisatorischen Einrichtungen, kann, muss eine gewandelte Auslegung erheischen: duplex interpretatio.[4] So haben die Wendungen „Inland“ und „Ausland“ in unserer Gesetzgebung, seitdem wir Kolonien erworben haben, unvermittelt einen neuen, nicht immer ohne Schwierigkeit zu deutenden Sinn angenommen. Dahinein könnte man auch die Beobachtung stellen, dass sich die Gegenwart gegen die Unfreiheit in der Auslegung auf ganzen Rechtsgebieten (Prozessgesetze) sträubt, wie sie noch vor einem Jahrzehnte üblich war. Die sog. Materialien des Gesetzes, die Begründung, Denkschriften, Kammerverhandlungen, eröffnen zwar einen Weg zur Erkenntnis von Anlass und Zweck des Gesetzes. Man wird ihnen aber nach den soeben gemachten Ausführungen nur einen sachlich wie zeitlich eingeschränkten Einfluss einräumen dürfen. Die Rechtsprechung und die der Praxis dienenden Schriften gehen in der Benutzung der Materialien oft zu weit.[5]

Ein bewährtes Mittel bei dem stark individuellen richterlichen Momente der Auslegung sind die Rechtssprüche der obersten Gerichte (Vollsitzungen), die eine einheitliche Auslegung anbahnen; zu weit schon geht die Rücksicht auf die „Prüfungsergebnisse“ des Reichsmilitärgerichts.

Ein dauernder Zwiespalt der Meinungen über die Tragweite einer gesetzlichen Vorschrift wird allerdings nur durch die sogenannte authentische Interpretation, d. h. durch einen neuen Ausspruch


  1. Die Verwendung, die das Völkerrecht bietet (Heilborn, Grundbegriffe des Völkerrechts 1912 § 24) wird leicht übersehen, nicht minder das Kirchenrecht (Scherer, Handbuch des Kirchenrechts, I 1885 § 5).
  2. Über Zeilers Anregung, ein Gerichtshof für bindende Rechtsauslegung, 1911 (ferner Rheinische Zeitschrift für Zivil- u. Prozessrecht IV 1912 S. 367–414), wird man nicht ohne weiteres hinweggehen können; Spiegel, Gesetz u. Recht S. 100.
  3. Ansätze: Gesetzentwurf Bassermann-Schiffer wegen Beschleunigung u. Vereinheitlichung der Rechtspflege (Drucksachen des Reichstags 1912/13 Nr. 1219); Wunsch des deutschen Vertreters bei der Haager Weltwechselrechtskonferenz (1912) nach einer Instanz zur Auslegung schwieriger Rechtsfragen (Niemeyers Zeitschrift 23 S. 421).
  4. Vgl. Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft S. 605. Ein Beispiel bei Fleischmann (Abolition) im Wörterbuch des deutschen Staats- und Verwaltungsrecht,2 I 52.
  5. In einem Prozesse R. contra Militärfiskus hat das Kammergericht am 5. Mai 1911 beschlossen, für die Auslegung der §§ 36 des Versorgungsgesetzes mehrere an den Kommissionssitzungen beteiligt gewesene Abgeordnete und Regierungsvertreter als Zeugen zu vernehmen.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 281. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/301&oldid=- (Version vom 1.8.2018)