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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

des Gesetzgebers selbst beseitigt werden können. Das ist keine Auslegung mehr, da der Gesetzgeber das Ziel der Klärung der Rechtslage höher stellen darf, als das sorgsam prüfender Aufhellung des Gesetzeswortes, wofür eine gesetzgebende Versammlung auch der Eignung entbehrt.

Besondere Bestimmungen finden sich gelegentlich über die Auslegung der Verfassungsurkunde, indem sie einem Staatsgerichtshofe übertragen ist (Sachsen VU. § 153, Oldenburg Art. 209): „Der erteilte Ausspruch soll als authentische Interpretation angesehen und befolgt werden“. Wo eine solche Behörde nicht besteht, würde Art. 76 Abs. 2 der Reichsverfassung zur Anwendung kommen können, also äussersten Falles die Reichsgesetzgebung eingreifen.

Zweierlei bleibt für die Auslegung noch zu betonen:

a) Es gilt als Gesetz zwar nur der erklärte Wille des Gesetzgebers. Ist aber die Erklärung durch offenbaren Irrtum beeinflusst (Redaktionsversehen), so überschreitet es nicht die Grenzen der Auslegung, wenn dieser erkennbare Irrtum bei der Anwendung des Gesetzes berichtigt wird.[1]

b) Unverbindlich kann der Inhalt eines Gesetzes sein, soweit er in den Bereich eines übergeordneten Machthabers eingreift – nicht also, wenn ein Gesetz in Widerspruch zu völkerrechtlicher Pflicht (Einwanderungsgesetzgebung!) träte – oder, soweit er unausführbar ist oder geworden ist, oder nur Rechtswahrheiten wiedergibt[2]; in den letzten Fällen auch unschädlich.

Praktisch sind dies indes ganz vereinzelte Fälle, bei denen Zurückhaltung geboten ist: Gesetzeswort, sie sollen lassen stahn!

3. Lücken der Gesetze.

Der Richter wirkt neben dem Gesetzgeber – adiuvandi et supplendi gratia – wenn das Gesetz für einen Fall keine Bestimmung enthält. Es liegt in seinem Amte, jeden Streit zu schlichten; es ist ausgeschlossen, dass er, weil das Gesetz keine Bestimmung enthielte, die Entscheidung ablehne.[3] Wo die Auslegung, ausdehnende oder einschränkende, nicht hilft, muss er einen Ausweg finden. Mit dieser Möglichkeit rechnen selbst die grossen Kodifikationen um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts, wiewohl die Aufklärungszeit sich in dem Gedanken der Vollständigkeit der Gesetzgebung gefällt. Ausdrücklich weist das Allgemeine preussische Landrecht § 49 an: „Findet der Richter kein Gesetz, welches zur Entscheidung des streitigen Falles dienen könnte, so muss er zwar nach den in dem Landrechte angenommenen allgemeinen Grundsätzen, und nach den wegen ähnlicher Fälle vorhandenen Verordnungen, seiner besten Einsicht gemäss, erkennen. (§ 50. Er muss aber zugleich diesen vermeintlichen Mangel der Gesetze dem Chef der Justiz sofort anzeigen)“. Die „Analogie“ wird für den Richter hier den Ausgangspunkt gewähren, die das Für und Wider abwägende Anlehnung an den gegebenen festen Punkt des Gesetzes, mag dies auch ein Ausnahmegesetz sein, und mag er auch unter Umständen dazu gelangen, positive Sätze dadurch abzuändern, dass er ihnen eine Ausdehnung über den ausdrücklich geregelten Fall hinaus gibt. Freilich wird es nicht selten zweifelhaft sein, ob die Ähnlichkeit des Tatbestandes so weit geht, dass sie eine analoge Anwendung der ursprünglich für diesen Tatbestand nicht aufgestellten Satzung rechtfertigt, oder ob nicht vielmehr die Satzung gerade jenen nicht gleichen, sondern nur ähnlichen Fall auszuschliessen beabsichtigte (argumentum e contrario). Hier werden sorgfältige und in die ratio legis nach allen Richtungen eindringende Abwägungen diejenige Linie fortsetzen müssen, die schon für die Auslegung bestimmend sein musste. Scheidungen wie „Rechtsanalogie“ und „Gesetzesanalogie“ können wenig fördern.

Die Analogie wird aber bei den komplizierten Verhältnissen des modernen Verkehrs gar nicht immer genügen können; man vergleiche z. B. die Rechtsfälle, in denen eine positive Vertragsverletzung auftauchte, Garantievertrag, Scheckrecht, Luftschiffahrt, Ausbeutung der Rechtskraft, Formalien des Verwaltungsstreitverfahrens, das fortgesetzte Verbrechen, Beweismittel im Disziplinarverfahren,


  1. Andrer Meinung Binding Handbuch des Strafrechts I 461 (Literatur für und wider), dagegen jetzt noch Brütt die Kunst der Rechtsanwendung 1907 S. 53.
  2. Eisele im Archiv für die zivilistische Praxis 69 (1886) S. 275–330, Haenel, S.159–173; v. Mayr, in der Festschrift zur Jahrhundertfeier des (österreichischen) Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs 1911, I 379 f.
  3. Code civil, art. 4: Le juge qui refusera de juger, sous prétexte du silence, de l’obscurité ou de l’insuffisance de la loi, pourra étré poursuivi commo coupable de deni de justice, Zusatz 4a im Badischen Landrecht (1809).
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/302&oldid=- (Version vom 1.8.2018)