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allgemeinen Bildung, mit genügender Schulung zur Erkenntnis wirtschaftlicher Zusammenhänge ausgestatteten Richter. Das Gesetz steckt einen oft weiten Rahmen ab, im Strafrechte sowohl wie im Zivilrechte, so wenn das BGB. es abstellt auf „Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte“ oder auf die „Billigkeit“, oder wenn es die „guten Sitten“ oder den „wichtigen Grund“ berücksichtigt. Erheblich freier noch will der Vorentwurf zum deutschen Strafgesetzbuche den Richter stellen. Nicht zu vergessen ist aber auch das Verwaltungsrecht mit seinen weiten Möglichkeiten des Ermessens; denn es ist aller Orten zu eng, bloss den Richter in Verhältnis zu dem Gesetze zu bringen und nicht überhaupt jedes zu einer Entscheidung berufene Amtsorgan.[1] Hierbei steht der Richter innerhalb des Gesetzes, wenn auch die freie Handhabung bis hart an die Korrektur des Gesetzes führen kann. Am freiesten wirkt die Tätigkeit, wo es gilt, Lücken der Gesetzgebung auszufüllen (Z. 3), was in besonderem Masse in dem noch unfertigen Rechtsbau für unsere Kolonien der Fall, doch bisher nur ganz vereinzelt beobachtet worden ist. Diese Fragen in den Mittelpunkt gerückt hat eine Reihe von Schriftstellern, die man als „Freirechtler“ zusammenfassend zu bezeichnen pflegt. Der Name deckt aber sehr verschiedene Stufen.[2] Die begehrte Freiheit vom Positiven, wo es zwängend wird, ist der Punkt, in dem sich die Verfechter dieser Richtung zusammenfinden, die Absage an eine sog. Konstruktionsjurisprudenz zugunsten einer „Interessenjurisprudenz.“ Der Inhalt dieser Freiheit oder richtiger der Abstrich, den der einzelne an dieser Freiheit zugunsten der Gebundenheit dennoch gelten lässt, sieht bei den einzelnen Vertretern naturgemäss verschieden aus. An Übertreibungen hat es nicht gefehlt, wie immer, wo neue Gedanken mit altem Besitzstande ringen. Unbedingt abzulehnen ist eine Aufstellung, bis zu der sich allerdings nur vereinzelt einer verstiegen hat: dass der Richter befugt wäre, unter Umständen auch gegen das Gesetz zu handeln, wo ihm das Gesetz zu unbilligem Ergebnisse zu führen scheint. Um so notwendiger ist es, nach dieser Richtung die deutliche Schranke zu ziehen, als der Gedanke an sich Folgen ebensogut in Gebieten des öffentlichen Rechtes, des Staats-, Verwaltungs- und auch des Strafrechts würde äussern müssen wie im Privatrecht. Hier erscheint die Korrektur des Gesetzes durch den Richter für die Regel nur politisch bedenklicher, deshalb aber auch augenfälliger. Ein grundsätzlicher Unterschied für die Anwendung ist jedoch nicht zuzugeben. In einem jeden Falle würde die Garantiefunktion, die in dem Gesetze liegt, verletzt; dem Richter eine Gewalt zugeteilt, die die Geschichte des Rechtes gegenüber einer noch unbeholfenen Gesetzgebung – in Rom, auch in England – wohl kennt, die aber mangels ausdrücklicher Zuteilung im Staate unserer Zeit sich an dem in schweren politischen Kämpfen errungenen Grundsatze stossen muss: „Die richterliche Gewalt wird durch unabhängige nur dem Gesetze unterworfene Gerichte ausgeübt“ (§ 1 Gerichtsverfassungsgesetz). Das Gesetz steht über dem Richter oder, um mit Altmeister Unger zu reden „der Richter hat


  1. Vgl. Stier-Somlo, Das freie Ermessen in Rechtsprechung und Verwaltung 1908, v. Laun, das freie Ermessen und seine Grenzen 1910, sowie Stammler, die grundsätzlichen Aufgaben der Juristen in Rechtsprechung und Verwaltung (im Verwaltungsarchiv Band 15) 1907. Aber Tezner, Das détournement do pouvoir und die deutsche Rechtsbeschwerde (Jahrbuch des öffentlichen Rechts V, 1911, 93).
  2. Ansätze bei O. Bähr, Rechtsstaat 1864 §§ 2, 4, 5 (meist übersehen). Literaturangaben jetzt bei Heck, Problem der Rechtsgewinnung 1911. Darum hier nur ein paar Ergänzungen: Wenger, Antikes Richterkönigtum (Festschrift zur Jahrhundertfeier des österr. Allg. BGB. I 479) 1911. Für das 18. Jahrhundert z. B. Aug. Leyser (vgl. Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft III 1, S. 210 f., Notenband S. 140); dagegen Svarez: „Es ist für die bürgerliche Freiheit nichts gefährlicher als dem arbitrio iudicis unbestimmte oder zu weite Grenzen zu setzen“ (Stölzel, Karl Göttlich Svarez, 1885 S. 184, auch 239). v. Kirchmanns Vortrag über die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft (1848) hat keine Spuren eingegraben (vgl. die Analyse von Th. Sternberg, J. H. v. Kirchmann und seine Kritik der Rechtswissenschaft 1908 S. 13.); Reichel, in der deutschen Richterzeitung II, 1910 Sp. 464–468; Manigk, Was ist uns Savigny? (Recht und Wirtschaft, 1912, 174, 199) u. österr. Zentralblatt für die Jurist. Praxis 30 Heft 9; v. Peretiatkowicz, Methodenstreit in der Rechtswissenschaft (Grünhuts Zeitschrift 39, 1913, S. 555 fg.); Müller-Eisert, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung 1914 (erschienen 1913); – Jos. Schwering, Naturrecht und Freirechtslehre (Festschrift der Görres-Gesellschaft für Georg v. Hertling 1913 S. 574–593), Rumpf, Der Strafrichter I, II, 1912, 1913; – Mendelssohn Bartholdy, Das Imperium des Richters 1908; Gerland, Die Einwirkung des Richters auf die Rechtsentwicklung in England, 1910; – Crusen, die deutschen Schutzgebiete das Eldorado der Freirechtler (im „Recht“ 1911 Sp. 549–557).
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 284. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/304&oldid=- (Version vom 1.8.2018)